unserer Ankunft auf der Spitze ein mächtiges Feuer an und sahen schweigsam zu, bis es verglühte und das Tal schwarz und dunkel unter uns lag. Um so leuchtender strahlten jetzt die Sterne, und weiß und gespenstisch glänzten von fern im Mondlicht die Schneegipfel zu uns herüber. Mit einem tiefen, erlösenden Aufatmen breitete mein Begleiter die Arme aus. „Ich lebe!“ flüsterte er. Wie weh mir der Jubel tat, der in seiner Stimme lag! – Ich vergaß seine Nähe, lehnte den Kopf an den Felsen und weinte – seit langer, langer Zeit zum erstenmal! Unten in der Hütte, in dem starken Heuduft fand ich keine Ruhe und saß die ganze Nacht auf der Altane, während die Geister der Vergangenheit aus der Tiefe zu mir aufstiegen, wie Nebel aus Fiebersümpfen. Die Felsengesichter schnitten mir höhnische Fratzen, und still und hoheitsvoll sahen weiße Riesenhäupter auf mich herab.
Mein Onkel war ein guter Reisekamerad, dessen Lebensfreudigkeit seine grauen Haare vergessen ließ, dabei voll rührender Sorgfalt für mich. Einmal saßen wir im Sonnenschein vor der Sennhütte zur schwarzen Tenne. Über dem offnen Feuer an einem primitiven Spieß briet er uns ein Hühnchen; „Frauenzimmer sind zu dumm dazu,“ sagte er, und ich überließ ihm nur zu gern die Arbeit, um, an die braunen Balken der Hütte gelehnt, durch dunkelgrüne Tannenwipfel in die Sonne zu blinzeln. Nach dem Mahl, das die nie vergessene Flasche Moselwein würzte, streckte er sich mir zu Füßen ins Gras und pfiff eine Tanzweise träumerisch vor sich hin. „Komisch,“ sagte ich halb zu mir selber, „du bist im Grunde ein Primaner oder bestenfalls ein Sekondeleutnant.“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/336&oldid=- (Version vom 31.7.2018)