Du wirst ‚glücklich‘ sein. Je jünger man ist, desto leichter gehts; es ist aber leider wie mit dem Morphium: je mehr man seiner bedarf, desto weniger wirkt es …“
Ich ging sehr ungern nach Bromberg. Ich fürchtete mich. Vor Papas übler Laune, vor der Öde der Kleinstadt. Nach einer Richtung wurde ich angenehm enttäuscht: mein Vater war bei bestem Humor und erzählte mir schon in den ersten zehn Minuten des Zusammenseins, daß seine Stellung nicht nur eine sehr angenehme und selbständige, sondern infolge der aufsteigenden Kriegswolken an der russischen Grenze eine höchst interessante wäre. Aber in bezug auf die Kleinstadt wurden meine schlimmsten Erwartungen übertroffen. Es gibt welche, die erfüllt sind von Tradition; die Giebelhäuser, die Türme, die Kirchen, die Stadtmauern erzählen unablässig ihre alten Geschichten, und wir träumen und phantasieren schließlich so gern mit ihnen, daß wir die Welt draußen beinah vergessen; und andere gibt es, die liegen warm und wohlig an breiter schützender Bergbrust, ein Flüßlein rauscht und plätschert ihnen zu Füßen, und ringsum breitet Mutter Natur ihr wunderlieblichstes Spielzeug aus, – auch da ist gut sein für arme heimatlose Wanderer; aber wo Pest und polnische Wirtschaft die Häuser und Mauern zerfallen, die Wälder rasieren ließen und die moderne Industrie lieblos und gleichgültig an schnurgeraden Straßen Kasernen und Fabriken baute, da ist recht eigentlich die Fremde, die nie und nimmer zur Heimat wird. Daß der alte Fritz hier den Kanal gebaut hatte, der die Weichsel mit der
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/326&oldid=- (Version vom 31.7.2018)