herrschte er mich an, dann zuckte ein bitteres Lächeln über seine sonst so gemessen beherrschten Züge: „Glaubst du, daß irgend einer von uns seinem Herzen hat folgen können?!“ Überrascht sah ich auf – welch Licht fiel plötzlich auf das Glück von Pirgallen?!
Im Spätherbst besuchte ich Großmama noch ein paar Tage, um dann zu meinen Eltern nach Bromberg überzusiedeln. Die letzten Monate krampfhaften Lebens waren wie der Sturm gewesen, der dem noch immer vom Sommer sehnsüchtig träumenden Baum die letzten Blätter entreißt. Sonst, wenn michs fröstelte vor dem nahenden Winter, gaukelte meine treue Gefährtin Phantasie mir immer neue lachende Frühlingsbilder vor, und meine junge, starke Hoffnung hielt sie gläubig fest. Jetzt sah ich mich vergebens um nach den beiden. In jener Nacht, da mein Herz gestorben war, hatten sie mich wohl verlassen. Sie bleiben nur Lebendigen treu.
„Ist es nicht merkwürdig, daß Ihr alle meinen Leichnam für mich selbst halten könnt?!“ schrieb ich an meine Kusine, „oder meinst Du, ich lebte, nachdem ich mit vollen Segeln ins Leben hinaus fuhr, um eine neue Welt zu entdecken, und nun mitten auf dem Ozean treibe und nichts gefunden habe als das ewige Einerlei der Wogen! – – – Nur um eine Einsicht bin ich inzwischen reicher geworden: daß das Glück, nach dem wir ein so unbändiges Verlangen tragen, nichts ist als Betäubung. Betäube durch Arbeit, Vergnügen, Liebe, durch Religion und Kunst Deine Überlegung, betäube den Gedanken an all das Elend in der Welt, geistiges und leibliches, betäube die Erinnerung an selbstverschuldete Schmerzen, an gescheiterte Hoffnungen mit einem dieser Narkotika, und
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/325&oldid=- (Version vom 31.7.2018)