einen heftigen Anfall von Seitenschmerzen und wußte bald nicht mehr, ob meine Tränen um das körperliche Leib oder um die Zerrissenheit meines Innern flossen.
Ich mochte die Sitzungen der Vereine nicht mehr besuchen, trotzdem mir dringend empfohlen wurde, mir die gute Gelegenheit, so viel zu lernen, nicht entgehen zu lassen. Nur nichts hören und sehen von dieser Hölle, in die die Armen mir rettungslos verdammt erschienen!
Ich ging aufs Eis, und in Gesellschaften und ins Theater, und je mehr die natürliche Lebenslust befriedigt und die Eitelkeit genährt wurde, desto leichter wurde mir ums Herz. Fuhren wir spazieren, die Tante und ich, und unser blauer Wagen rollte in der Vorstadt mitten durch den Zug der heimkehrenden Arbeiter, so schloß ich am liebsten die Augen, nachdem meine Bitte, diese Gegend zu meiden, als „sentimental“ unerfüllt geblieben war. Aber grade wenn ich nicht hinsah und nur die müden Schritte hörte und das freudlose Gemurmel vieler Stimmen, war es mir, als ginge ich mitten unter ihnen und sähe meinen Doppelgänger bequem in die seidenen Kissen gelehnt an mir vorüber rollen. Und dann packte mich eine Wut – eine Wut, daß ich am liebsten den nächsten Stein genommen und ihn den vornehmen Faullenzern ins Gesicht geschleudert hätte!
Sah ich dann, wie aus wüstem Traum erwachend, um mich, so fiel mein Blick nur auf gleichgültige oder bewundernde Mienen – es gab sogar Männer, die die Mütze zogen vor uns. Ich wandte jedesmal den Kopf ab.
Im Mai kam mein Vater, um mich heimzuholen. Er war von überströmender Freude und Zärtlichkeit, die ich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/192&oldid=- (Version vom 31.7.2018)