gerührt und dankbar empfand. Seine Schwester rühmte mich als das Produkt ihrer Erziehung, wobei sie ihrer Mühen und Opfer ausgiebig gedachte und es an Seitenhieben auf die Eltern nicht fehlen ließ, die mich in so „verwahrlostem“ Zustand ihr übergeben hatten. Seltsam, wie mein sonst so heftiger Vater sich das alles gefallen ließ; zwar schwollen ihm oft die Adern auf der Stirn, aber er schwieg. Ich freute mich auf Zuhause, auf die Liebe, die mich umgeben, die Freiheit, die ich genießen sollte, auf die Pflichten, von deren Erfüllung ich mir Befriedigung versprach. Alles Böse wollte ich den Eltern vergessen machen, was sie durch mich erfahren hatten! Meine Gedanken und meine Empfindungen waren schon lange, lange vor mir daheim.
Als ich zum stillen Abschied am letzten Abend im dämmernden Park auf und nieder ging, kam es über mich, wie eine Vision. Ein großes, dunkles Tor sah ich und eine endlose schwarze Schlange langsam schleichender Menschen, die daraus hervorkroch: Mädchen, wie die Resi, und Frauen, wie die arme Witwe, und viele, viele Kinder mit sonnenlosen Gesichtern. – Ich warf mich ins Gras und weinte bitterlich. Als ich dann ins helle Licht der Lampen trat, schlang die Tante, beim Anblick meiner tränenfeuchten Augen, gerührt über so tiefen Abschiedsschmerz, die Arme um mich.
„Bleibe mein gutes Kind,“ sagte sie beim Abschied mit Betonung.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/193&oldid=- (Version vom 31.7.2018)