– schauen’s, wie’s mi grad gepackt hat – dös kommt alle Tag’ a paar Mal – der Herr Doktor hat gesagt, i soll viel Milli trinken, da hol’ i mi heimli an halben Liter am Tag“ – aus dem Winkel des Schränkchens suchte sie ein Töpfchen hervor, dabei ängstlich nach der Türe schielend, ob auch der Vater nichts merken könne. „Recht a gute Luft, meint der Herr Doktor, wär’ halt auch nötig“ – ein bittres Lächeln huschte um ihre Lippen – „Sie merken’s ja selber, wie’s hier damit steht, und schlafen muß i a no bei ihm drinnen! Wie’s aber in der Fabrik is, das wissen’s gewiß nit, – da schluckt einer weiter nix wie Baumwolle.“
Zu Hause meinte ich, es wäre am besten, der Alte käme ins Spital. Die Tante war empört über meine Herzlosigkeit. „Ein Kind gehört zu seinen Eltern,“ sagte sie, „und dann am sichersten, wenn sie alt und krank sind.“ Nach einer neuen, „sachverständigeren“ Untersuchung wurde festgestellt, daß die Resi am Sonnabend stets auf dem Tanzboden zu finden sei und für bunte Bänder immer Geld übrig zu haben scheine. Diese Entdeckung wurde mir mit allen Zeichen einer Entrüstung mitgeteilt, die ich beim besten Willen nicht zu teilen vermochte. „Wir gehen doch auch in Gesellschaften – noch dazu ohne die ganze Woche gearbeitet zu haben,“ sagte ich naiv, „und die Resi ist jung wie wir, dazu arm und krank – laßt ihr doch das bißchen Lebensfreude.“
Von da an wurden mir die Armenbesuche verboten. Nur zu Weihnachten durfte ich an der allgemeinen Bescherung des Krippenvereins teilnehmen. In einem langen niedrigen Saal standen hölzerne Tafeln mit geschmacklosen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/190&oldid=- (Version vom 31.7.2018)