„Ihr könnt mit allem, was Euch bedrückt, mit Euren Leiden und Zweifeln zu mir kommen. Ich werde mich immer bemühen, Euch zu verstehen und Euch zu helfen.“ Die harmlosen Kindergesichter meiner Mitschülerinnen – Offizierstöchter wie ich, die natürlich von den übrigen Gemeindekindern gesondert unterrichtet wurden – legten mir unwillkürlich während unseres Zusammenseins bei ihm Schweigen auf. Um so häufiger wollte ich allein zu ihm gehen. Herzklopfend trat ich das erste Mal bei ihm ein. In vagen Andeutungen, die gewiß nur ein guter und gütiger Physiologe hätte verstehen können, sprach ich ihm von den bösen Gedanken und häßlichen Phantasien, die ich vergebens zu vertreiben versuchte. Ein „hm, hm,“ und „so, so“ und ein erstauntes Kopfschütteln war zunächst die einzige Antwort. In sichtlicher Verlegenheit, die Handflächen nervös aneinanderreibend ging er im Zimmer auf und ab, blieb abwechselnd vor dem Gummibaum am Fenster, dem Stahlstich des Gekreuzigten über seinem Schreibpult und der Sammlung von Familienphotographien auf dem Bücherbrett stehen, die er eingehend zu betrachten schien, um sich endlich, wie unter dem Einfluß eines raschen erleuchtenden Gedankens, mir wieder zuzuwenden. Über den Tisch hinweg streckte er mir beide Hände entgegen, fleischige, weiche Hände, die sich anfühlten, als hätten sie weder Knochen noch Muskeln. Eine physische Abneigung ließ mich zögern, die meinen hineinzulegen. „Nun, mein Kind,“ sagte er und hob sie auffordernd, „habe Vertrauen zu Deinem Seelsorger! Wie ich jetzt Deine Hände fasse,“ – seine runden Finger legten sich um die meinen, als wären es lauter nackte, klebrige Schnecken,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/129&oldid=- (Version vom 31.7.2018)