– „so wird Gott die flehend zu ihm erhobenen Hände deiner Seele ergreifen und dich aufrichten vom Staube! Das sind Versuchungen des Bösen, denen du ausgesetzt bist. Je mehr dein Glaube lebendig werden wird, je inniger du zu beten lernst, desto sicherer wirst du ihn überwinden.“ – Ich zog leise meine Hände aus den seinen und rieb sie unter dem Tisch heimlich an meinem Kleide ab. Er fing an, mich zu examinieren, ob, wie oft und wann ich bete, ob ich zu unserm Herrn und Heiland in kindlich-vertrauendem Verhältnis stünde, ob ich fleißig die Bibel läse. Nach kurzem Kampfe gegen ein starkes inneres Widerstreben antwortete ich ihm, wie es der Wahrheit entsprach, war ich doch zu ihm gekommen, beseelt von dem aufrichtigen Wunsch, erlöst zu werden von meinen Qualen, getrieben von der Sehnsucht, mir einen neuen, dauernden Tempel bauen zu können, wo ich zu einem lebendigen Gott zu beten vermöchte! Er runzelte die Stirn, „das ist ja sehr, sehr traurig und unerhört für eine christliche Familie!“ rief er aus. Ich beeilte mich, die Eltern zu verteidigen: „O wir beten immer bei Tisch, Mama liest jeden Morgen eine Andacht, und in die Kirche gehen wir auch jeden Sonntag!“ – „Um so unbegreiflicher, daß ein so junges Kind, wie du, der Verführung des Bösen erliegen konnte.“ Ein neuer Gedanke schien ihm durch den Kopf zu gehen, scharf sah er zu mir hinüber; „Was liest du denn?“ frug er. Ich erschrak; sollte ich ihm das Geheimnis meiner schönsten Stunden verraten?! Ein tiefes, schmerzliches Aufatmen – es mußte sein – mußte sein, um meines Heiles willen! Zu jener Zeit hatte ich angefangen, mir aus Papas Bücherschrank Goethes Werke zu
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/130&oldid=- (Version vom 31.7.2018)