Damit ging sie hinaus. Mein Vater sprang wütend auf. Mich packte die Angst: nur keine neue Szene! Und all die Sünden fielen mir ein, deren ich mich tatsächlich schuldig fühlte. Ich trat Papa in den Weg. „Sei nicht böse, bitte, bitte nicht,“ bat ich schmeichelnd, „es ist vielleicht wirklich das Beste, wenn ich Religionsstunden bekomme. Ich bin ja doch bald vierzehn Jahre alt. Und schaden werden sie mir gewiß nichts!“ Mein Vater, der mit ein wenig Zärtlichkeit gelenkt werden konnte wie ein Kind, zog mich gerührt in die Arme, als ich, um meiner Bitte Nachdruck zu geben, meine Wange auf seine Hand preßte. „Und der Bengel, das schwatzhafte alte Weib?“ brummte er noch. „Den strafe ich mit Verachtung,“ lachte ich.
Meine Mutter trat wieder ein. „Hier ist meine Antwort,“ sagte sie: „Sehr geehrter Herr Pfarrer! Sie sind unsern Wünschen zuvorgekommen. Die rasche Entwicklung unsrer Tochter macht eine frühere Einsegnung nötig, als es sonst üblich ist. Wir haben sie daher auf das nächste Jahr festgesetzt und bitten Sie, uns mitzuteilen, wann der Vorbereitungsunterricht beginnt, zu dem wir Ihnen unsre Alix anvertrauen wollen. Auf die Klatscherei des jungen Mannes einzugehen, widerspricht unsern elterlichen Empfindungen …
„Ich habe damit nicht etwa dich, sondern unseren guten Ruf in Schutz genommen,“ fügte sie rasch, zu mir gewendet hinzu.
Bald darauf begann der Unterricht. Sehr befriedigt, von einer neuen frohen Hoffnung erfüllt, kam ich aus der ersten Stunde nach Hause. „Meine Türe und mein Herz stehen Euch jederzeit offen,“ hatte der Pfarrer gesagt,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/128&oldid=- (Version vom 31.7.2018)