in unsre Wohnung. Hatte ich bisher ein Zimmer neben der Schlafstube der Eltern bewohnt, in dem sich tags über meist auch die Jungfer aufzuhalten pflegte, so öffnete er mir jetzt die Tür zu einem bis dahin unbenutzten Raum. „Das ist dein Reich, mein Kind,“ sagte er. Ich konnte das Glück kaum fassen: ein eignes Zimmer! Dieser Traum jedes zu selbständigem Leben reifenden Menschenkindes sollte mir so wundersam in Erfüllung gehen! Keine rasselnde Nähmaschine durfte mich hier mehr stören, niemand konnte mir den Platz am eignen Schreibtisch streitig machen! Nur das alte braune Sofa erinnerte trotz seines neuen blau-weißen Kleides noch an die Kinderstube. Die erste Nacht unter dem schneeigen Betthimmel und der roten Ampel fand ich keinen Schlaf: mein Zimmer, und doch – das allereigenste fehlte ihm noch, das geheimnisvolle, das niemand sehen durfte als ich allein. Ich richtete mich auf, zündete die Ampel an und schlüpfte aus dem Bett. Bunte Seidenreste und einen großen gelben Schal holte ich aus meinem Wäscheschränkchen und kauerte damit am Fenster nieder, wo zwischen dem Sofa und der Wand eine Ecke leer war. Mit Nadeln und Reißnägeln spannte ich den gelben Schal wie ein Zeltdach zwischen der hohen Seitenlehne des Sofas und der Fensterwand, fütterte die Wände innen mit rotem Atlas und breitete himmelblauen Sammet als Teppich auf dem Boden aus. Einen weißen, mit Blumen bemalten Kasten stellte ich wie einen Altar in die Mitte, bunte Kerzen von meinem Geburtstagskuchen befestigte ich ringsum, und eine kleine Schale von Malachit, mit Rosenblättern gefüllt, legte ich als Opferstein davor.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/096&oldid=- (Version vom 31.7.2018)