und Buddhisten nicht weniger fromm waren als die Nachfolger Christi und mit derselben Hingabe wie sie für ihren Glauben lebten und starben. Die Fabel von den drei Ringen kannte ich noch nicht, aber ich empfand schon die Schwere ihrer Fragestellung. Mein Lehrer, der dem Mißtrauen meiner Mutter, als er sich weigerte, mir Religionsstunden zu geben, dadurch begegnet war, daß er versprochen hatte, keinerlei Glaubenszweifel in mir zu erwecken, beschränkte sich im wesentlichen auf die Darstellung historischer Ereignisse und wich meinen bohrenden Fragen so lange aus, bis ich es aufgab, sie zu stellen. In meinem Innern aber wurden sie zu Quadersteinen eines babylonischen Turms, von dem auch ich über die Wolken zu sehen hoffte. Da ich noch zu schwach und ungeschickt war, sie ohne Hilfe fest und sicher aufeinander zu schichten, brach mein Bau frühzeitig zusammen. Nicht zu neuen Wundern hatte er mich emporgeführt, doch meinen Kinderglauben begrub er unter seinen Trümmern.
Im mystischen Dunkel der Tempel und Kirchen waltet die Phantasie ungestört, die große Bannerträgerin allen Glaubens, und stößt den Marmorsteinen der Götter und den Bildern der Heiligen rotes, warmes Leben ein. Dringt aber Licht und Lärm durch zerrissene Vorhänge und zerbrochene Scheiben, so wandeln sie sich wieder zu toten Gebilden von Menschenhand. Die Phantasie aber baut in stillen Winkeln neue Tempel für die glaubensdurstigen Kinderseelen, die Denker und Dichter noch nicht sind, oder niemals werden können.
Einmal, nach der Rückkehr von einer längeren Sommerreise, führte mich mein Vater mit besondrer Feierlichkeit
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/095&oldid=- (Version vom 31.7.2018)