Nur der Gott fehlte noch, dem der Weihrauch duften sollte. Leise, mit angehaltnem Atem, schlich ich zum Eßzimmer hinüber, holte vom Ofensims die kleine Statuette des Apoll vom Belvedere und erhob ihn zum Heiligen meines farbenglühenden Tempels. Tief mußt ich mich neigen, um hineinzusehen; aber daß ich fast die Erde mit den Lippen berührte, entsprach nur meiner feierlichen Andacht. „Baldur“ nannte ich den Apollo, denn die Götterwelt der Germanen war mir vor allem vertraut geworden, und mit einer ersten instinktiven Auflehnung gegen die Schmerzensgestalt des Gekreuzigten betete ich den blühenden Gott des steigenden Lichtes an.
Kindisch mags denen erscheinen, die nichts wissen von den Tiefen der Kindesseele, ich aber weiß, daß keines gläubigen Christen Frömmigkeit inniger sein konnte als die, die mich erfüllte, wenn ich vor dem selbstgeschaffnen Heiligtum in die Knie sank.
Meiner Mutter erzählte ich herzklopfend, daß ich den Apollo „zerbrochen“ hätte, und bat sie, wie alle Hausbewohner, die mit einem dunkeln Tuch sorgfältig verhüllte Ecke meines Zimmers nicht zu untersuchen, der „Weihnachtsüberraschungen“ wegen, die ich dort verwahrt hätte. Als aber Weihnachten vorüber war, machte ich keinerlei Anstalten, meinen geheimnisvollen Bau dem Besen und dem Scheuertuch zu opfern. Heimlich kaufte ich mir Blumen, um ihn stets frisch zu schmücken, und eine kleine ewige Lampe, an deren Brennen und Erlöschen sich allmählich allerlei abergläubische Vorstellungen knüpften, und Räucherkerzchen, die allabendlich den Gott auf dem Altar in bläuliche Wolken hüllten. Schon oft hatte Mama mich gemahnt, das „unnütze
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/097&oldid=- (Version vom 31.7.2018)