ist, weil noch kein Schatten eines Zweifels ihn erprobte.
Bei mir wie bei jedem Kinde wiederholte sich, was die Kindheit der Völker kennzeichnet: ihre Phantasie ist das Mittel, durch das sie sich mit dem ungeheuern Geheimnis des Lebens und des Schicksals auseinandersetzen. Sie überwinden die Furcht vor dem Unbegreiflichen durch den Glauben an die waltenden Wesen über ihnen. Schon als kleines Kind flüchtete ich, wenn irgend ein Ereignis mich aus dem Gleichgewicht brachte, in die Stille, um inbrünstig den Vater im Himmel um Hilfe zu bitten. Auf meine religiösen Empfindungen blieben die Gebete, Sprüche und Gesangbuchverse, die ich in der Schule gelernt hatte, und der Luthersche Katechismus vor allem, der, wäre er chinesisch geschrieben, den Kindern nicht weniger verständlich sein würde, so einflußlos wie die nüchterne Öde der protestantischen Kirche. Die Heiligenbilder, das geweihte Wasser, die durch rotes Glas mystisch schimmernde ewige Lampe unter dem geheimnisvollen Bilde der schwarzen Madonna von Czenstochau, die die Wände in der Kammer unsrer polnischen Köchin schmückten, zogen mich weit mehr an.
Das Licht des grellen Tages fiel nun in diese unberührte traumdunkle Märchenwelt meiner Religion.
In der Geschichtsstunde, zu der in spätem Jahren ein besondrer religionsgeschichtlicher Unterricht hinzukam, lernte ich, wie nicht nur innerhalb des Christentums eine Kirche, eine Sekte die andre auf das heftigste bekämpfte, wie jede im Besitz des alleinseligmachenden Glaubens zu sein behauptete, und für jede Märtyrer geblutet hatten, ich sah auch, daß Juden, Muhamedaner
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/094&oldid=- (Version vom 31.7.2018)