und verabschiedete sich noch unbeholfener als gewöhnlich. Mir gab es einen Stich ins Herz: es war zwar nicht ein Heros, dessen Sturz mich verletzte, es war nur ein erster schüchterner Trieb beginnenden Vertrauens, der mir aus dem Herzen gerissen wurde. Ein Mann, der sich so herunterputzen ließ! Der seine Überzeugung nicht zu vertreten vermochte! Daß Mutter und Schwester daheim mit jedem Groschen rechnen mußten, den er verdiente, – das freilich wußte ich damals nicht.
Für mich, für die ein Erlebnis, das andre kaum empfanden, so oft zum erschütternden Ereignis wurde, blieb diese Stunde bedeutungsvoll. Noch immer sah ich Tag für Tag meinem Lehrer voll Erwartung entgegen, aber er war doch nur der Türhüter am Museum der Menschheitsgeschichte, nicht der Führer, dessen Leitung sich der Laie anvertraut: er öffnete mir einen Saal nach dem andern, aber ich ging schließlich doch allein. Wenn es auch sein höchstes Verdienst war, daß ich allein gehen lernte, – nicht auf den Stelzen fremder Anschauungen, die unbrauchbar werden, sobald es gilt, über Felsen zu klettern –, so ist doch die Seele des Kindes zu weich, zu schutz- und anlehnungsbedürftig, als daß sie auf einsamer Wanderung durch das fremde Leben nicht Wunden über Wunden davontragen müßte und ihr beim Sammeln von Blumen und Beeren nicht allzuviel giftige in die Hände fielen.
Ich war ein frommes Kind gewesen – mit jener Frömmigkeit, die an den lieben Gott und an die Engel und an den Herrn Jesus ebenso innig glaubt, wie an die sieben Zwerge, an die Knusperhexe und an die kleine Seejungfrau; mit jenem Glauben, der gar kein Glauben
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/093&oldid=- (Version vom 31.7.2018)