und das kalte, trübe Wetter, das meinem empfindlichen Halse schaden konnte, war Erklärung genug für unsre beschleunigte Abreise. Die Rosen am See waren längst entblättert; bis tief ins Tal hingen die Wolken, als das weiße Kirchlein mehr und mehr meinen Blicken entschwand. An einer Biegung des Wegs kam der Sepp gelaufen, einen Strauß von blauem Enzian in der Hand, aus dessen Mitte zwei große weiße Sterne leuchteten. „Von der Zugspitz,“ stotterte er, auf die Edelweiß zeigend, dann brach ich in Tränen aus und weinte — weinte noch, als schon Garmisch weit hinter uns lag. Das Wetter hellte sich indessen allmählich auf, und wie ich von Weilheim aus rückwärts sah, lagen die Wolken, wie bezwungene Sklaven, tief im Tal, während die Berge, mit der glänzenden Silberkrone des Neuschnees auf ihren Häuptern, stolz und siegesbewußt gen Himmel ragten. Dies Bild nahm ich mit, und ich wußte: nie wird es mir entschwinden.
Papas Freude, als er uns in Berlin empfing, war grenzenlos. In unserm neuen Heim in der Hohenzollernstraße hatte er mir einen Aufbau von Geschenken vorbereitet, grade wie zu Weihnachten. Ich wagte zunächst gar nicht, mich zu freuen in Erwartung von Mamas bekannten, vorwurfsvollen: „Aber Hans!“ Doch diesmal blieb es aus; stand doch mein guter Engel daneben: die Großmutter. Wie einst in Potsdam, so war sie jetzt mit uns in ein Haus gezogen; wir glaubten eines langen Aufenthalts in Berlin sicher zu sein.
„Ist mein Herzenskind aber groß geworden!“ rief sie, mich gerührt in die Arme schließend. – Großmama, wie alt wurdest du, – hätte ich beinahe erwidert, wenn die
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/060&oldid=- (Version vom 31.7.2018)