am Klavier und ließ in ihrer dunkeln Altstimme alle Skalen der Leidenschaft vor dem entzückten Zuhörer tönen. Genügte ihr das nicht, um meine Mutter, die nichts Gleichwertiges zu bieten hatte, in den Schatten zu stellen, so griff sie sie an ihrer schwächsten Stelle an: ihrem preußischen Patriotismus. Wie oft ging meine Mutter mit hochrotem Kopf und zusammengepreßten Lippen hinaus, wenn die Schwägerin wieder einmal preußische Sitten, preußische Ansichten, preußische Politik geringschätzig kritisiert hatte. Daß sie es trotzdem bei ihr aushielt, war nur ein Ergebnis ihres Pflichtgefühls: von der reichen, kinderlosen Frau hing die Gestaltung meiner Zukunft ab, ihr galt es Opfer zu bringen.
Eines Tages kam es zur Explosion. Meine Mutter machte irgend eine wegwerfende Bemerkung über die zweifelhafte Herkunft einer Dame, die eben, eine Wolke von Parfüm hinterlassend, die Terrasse verlassen hatte; die Tante widersprach und redete sich so in den Zorn hinein, daß sie schließlich Mama vorwarf, ihren eignen Mann beleidigt zu haben, denn nach der von ihr ausgesprochenen Ansicht, wäre auch seine Mutter „von zweifelhafter Herkunft“. Mama verteidigte sich; ein Wort gab das andere, Tante Klotilde spielte ihren letzten Trumpf aus, indem sie mit haßfunkelnden Augen hervorstieß: „Du am wenigsten hast ein Recht von zweifelhafter Herkunft zu sprechen. Weiß man doch, wer deine Großmutter war!“
Zwei Tage später verließen wir das Rosenhaus, nicht ohne daß vorher eine konventionelle Versöhnung stattgefunden hätte. Unsre Zeit war sowieso beinahe abgelaufen,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/059&oldid=- (Version vom 31.7.2018)