Regeln der guten Erziehung mich nicht rasch genug daran gehindert hätten. Ihr glänzendes dunkles Haar war ganz grau, und tiefe Falten zogen sich von Nase und Mund herab. Sie schien mich auch ohne Worte zu verstehen, denn mit einem wehmütigen Lächeln sagte sie: „Ich bin jetzt eine alte Frau, mein Alixchen, – das Leben ist nur selten ein Jungbrunnen!“
War meine Stimmung jetzt schon gedämpft, so wurde sie noch mehr herabgedrückt, als ich mich umsah bei uns: alles kam mir beschränkter vor als sonst, fremde Leute wohnten mit uns im gleichen Haus, und statt des großen Karlsruher Gartens fand sich nur ein Vorgärtchen an der Straße, dessen Rasen man nicht zertrampeln, dessen Blumen man nicht abpflücken durfte. Ich frug nach August und nach den Pferden. Der Stall lag jenseits der Straße, Papa führte mich hinüber; meine Enttäuschung über diese Entfernung war groß, sie steigerte sich, als ich eintrat: unsre Goldfüchse waren fort, nur drei Pferde standen darin, ein fremder Reitknecht trat mir entgegen. „Weißt du, in Berlin gibt es so schöne Droschken, da braucht man Kutscher und Wagen nicht,“ sagte Papa lächelnd, aber ich sah recht gut, daß seine Schnurrbartenden verräterisch zuckten und seine Harmlosigkeit Lügen straften. Ich biß mir auf die Lippen und ging nachdenklich nach Hause, und mehr als einmal zuckte ich angstvoll zusammen, wenn Papa – ein Zeichen seiner tiefen inneren Erregung – ohne besondere Ursache heftig wurde.
Bald darauf kam ich in die Schule, ein Privatinstitut in der Königin Augustastraße, das erst seit kurzem bestand und nur wenig Zöglinge hatte. Meine Großmutter
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/061&oldid=- (Version vom 31.7.2018)