„O Gott, jetzt kommt Adolf“. Aber nein, es war Onkel Sally, der Geburtstagsonkel unzähliger junger Frauen und Mädchen, ein mumienhaftes hageres Männchen mit gefärbtem Bart und einer reichen schwarzen Perrücke, unter der die eingesunkenen Äuglein und die scharfe Hakennase gespenstisch bleich aussahen. Seine breite Unterlippe troff von süßen Reden und blühenden Wunschformeln, und all das richtete er zuerst an Annita, die er für das Geburtstagskind hielt, denn er war mit Severins ebensowenig verwandt, wie mit den übrigen Nichten seiner Wahl. Das junge Mädchen, das beständig an das gefürchtete Wiedersehen dachte, ließ alle Händedrücke über sich ergehen und zog sich erst zurück, als Onkel Sally sie väterlich auf die Stirn küssen wollte. Da schrie sie: „Adelheid! Adelheid! komm doch her“, und verschanzte sich hinter den zwei Jungen, Max und Paul, die eben händereibend und mit knarrenden neuen Stiefeln hereinkamen. „Ist Adolf schon da?“ fragte sie mit stockender Stimme und erröthendem Gesicht. „Nein, Dein Adolf ist noch nicht da“, erwiderte Max laut und frech, und dann lachten die beiden Schlingel, bis sich alle verwundert nach ihnen umsahen. Oha, diese schreckliche Geschichte! Adelheid mochte die Honneurs machen, Annita fühlte sich zu beklommen hier; sie lief hinaus und suchte Mama Severin auf, die in der Kellerküche mit dem Apfelsinensalat beschäftigt war; Cäsar saß dünn und
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/235&oldid=- (Version vom 31.7.2018)