bewußt war. Die Malerin kam ihm wie eine längst bekannte Person vor, ihre Freiheit und Sicherheit war ihm aber doch in solcher Kombination noch nicht vorgekommen. Er hatte erfahren, daß die nächste Bahnstation Gauting hieß, und daß er nur noch etwa drei Wegstunden bis München hatte; es war später Mondschein zu erwarten, die kleine Verzögerung konnte also nur nützlich sein. Der Thee war gut, und das Gespräch interessirte ihn. Er hatte den Rahmen auf der Staffelei umgedreht, über die markig und kantig entworfene Porträtskizze eines Mannes, die erst in Kohle angelegt war, einige anerkennende Worte gesagt.
„Es sieht alles so ehrlich aus, was Sie machen, keine Schönfärberei, aber auch keine Schmutzfärberei, nichts auf den Effekt,“ rühmte er.
Die Malerin blickte ihn forschend an. „Ja, ich bin bieder,“ seufzte sie und riß plötzlich den Rahmen von der Staffelei, um ihn hart aufstoßend in die Zimmerecke zu werfen. „Das Wort verfolgt mich seit meinen ersten Strichen, es klebt mir an, jeder Neue sagt mir dasselbe. Bieder – das heißt talentlos, phantasielos, platt, unkünstlerisch! Und mein Geschmack wäre das Skurrile, Ausgefallene, Tolle, Wilde, das wäre mein Geschmack.“
„Also lieber verblüffen, als gefallen,“ fiel Hausdörffer sarkastisch ein.
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/116&oldid=- (Version vom 19.8.2019)