von Ihrem Charakter erwarten, daß Sie, meine
Liebe, sich der Aufgabe, die sich Ihnen hier bietet,
gewachsen zeigen werden. Sie besteht weniger
darin, die Königin in ihrem Kampf gegen das
Ministerium zu unterstützen. Das ist die Absicht
des Prinzen Rohan, der nicht nur den Wünschen
der Königin schmeicheln, sondern seine eigenen
Interessen fördern will. Sein Ehrgeiz hat die Abberufung
von dem Wiener Gesandtenposten nicht
verwunden; der Kardinalshut ist das mindeste,
durch das er befriedigt werden kann, und die
Rücksicht auf seine einflußreiche und vermögende
Familie wird den König schließlich zur Zustimmung
bewegen, während die Königin den Prinzen
nach wie vor zu empfangen sich weigert. Als Erklärung
ihrer Stellungnahme, – denn Rohans Wiener
Ungeschicklichkeiten scheinen mir für ihre
Schroffheit doch keine ausreichende zu sein, –
kam mir das Gerücht zu Ohren, daß er die kleine
Erzherzogin mit deutlichen Liebesanträgen verfolgt
haben soll. Ich halte es daher für ratsam,
ihn etwas fern zu halten, um so mehr als sein
Ruf auch hier in Paris der denkbar schlechteste
ist. Er hat, wie er mir selbst erzählte, seit seiner
Ankunft täglich im Hotel irgendeiner Kurtisane
soupiert. Männer wie er würden die verderblichen
Neigungen der Königin nur noch unterstützen, und
den Kreis leichtfertiger Damen und Herren vergrößern,
mit dem sie sich umgeben hat.
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/144&oldid=- (Version vom 31.7.2018)