Sie wissen, wie wir uns beglückwünschten, als
die Maitressenwirtschaft mit der Thronbesteigung
des Königs aufhörte. Ich scheue mich nicht zu
erklären, daß wir bei dem Changement eher verloren
als gewonnen haben. Marie Antoinette lebt
nur dem Vergnügen und geht darin so weit, daß
sie ohne Rücksicht auf die Würde ihrer Stellung
in den gewagtesten Komödien vor einem Parterre
applaudierender Kavaliere auftritt und ihre Günstlinge
auf Grund ihrer schauspielerischen Talente
auswählt. Ist es doch bereits so weit gekommen,
daß hohe Herren, wie der Graf von Artois, sich
in Versailles als Seiltänzer produzieren, und die
Gräfin Polignac Unterricht im Ballettanzen nimmt!
Kein Wunder, daß die Ehrfurcht vor dem Herrscherhaus
mehr und mehr schwindet und Couplets gesungen
werden, die die Neigung der Fürsten, sich
in dieser Weise zu encanaillieren, in bitterster
Weise verspotten.
Ich habe Ihnen nur noch mitzuteilen, daß wir das liebenswürdige Anerbieten Ihres Herrn Onkels, des Grafen Waldner, zunächst in seinem Hause Wohnung zu nehmen, akzeptieren müssen, da es nicht leicht ist, ein passendes Hotel zu finden und unser Bleiben in Paris immerhin noch von der Gestaltung der Dinge abhängt.
Teilen Sie mir beizeiten Ihre Reisedispositionen mit.
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/145&oldid=- (Version vom 31.7.2018)