Vergebens suche ich, schönste Frau Marquise, in Ihrem Briefe an Clarisse nach einem noch so leisen Zeichen, das ich als eine Erinnerung an mich hätte deuten können. Bin ich Ihnen wirklich so ganz gleichgültig? Oder sah das Gespenst Ihrer einstigen Gouvernante Ihnen über die Schulter, als Sie ein Schreiben verfaßten, dessen würdevoller Trockenheit sich die reizende Klosterschülerin von l'Abbaye aux Bois geschämt hätte? Ich würde der selbstsüchtigen Sehnsucht, mich Ihnen zu Füßen zu legen, widerstanden haben, aber der ritterlichen Verpflichtung, die Dame meines Herzens von dem Einfluß der bösen Geister Ihres alten Bergschlosses zu befreien, kann ich mich nicht entziehen. Nur Ihr ausdrückliches Verbot wird mich davon zurückhalten, meine Schwester auf der Reise zu Ihnen, die sie unmöglich ohne meinen Schutz machen kann, zu begleiten. Seien Sie gewiß: mit dem ersten Lächeln, das ich um Ihre roten Lippen hervorzaubere, wird die Erinnerung an mich, als an Ihren getreusten Bewunderer, zurückgekehrt sein. Und Sie müssen und Sie werden lächeln, wenn erst ein Hauch Pariser Luft Ihre Rosenwangen streichelt.
Sie vibriert von Leichtsinn, Erregung, Leidenschaft! sie ist wie verflüchtigter Champagner
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/050&oldid=- (Version vom 31.7.2018)