sind. Nimmt er diese Folgerungen an, so kann er sie, wie ich glaube, ruhig auf den Menschen ausdehnen. Es würde aber überflüssig sein, hier das zu wiederholen, was ich erst vor Kurzem über die Art und Weise gesagt habe, in welcher geschlechtliche Zuchtwahl dem Anscheine nach sowohl auf die männliche als die weibliche Seite des Menschengeschlechts eingewirkt hat, wie sie die Ursache gewesen ist, dass die beiden Geschlechter des Menschen an Körper und Geist und die verschiedenen Rassen in verschiedenen Characteren von einander, ebenso wie von ihrem alten und niedrig organisirten Urerzeuger verschieden geworden sind.
Wer das Princip der geschlechtlichen Zuchtwahl zugibt, wird zu der merkwürdigen Schlussfolgerung geführt, dass das Nervensystem nicht bloss die meisten der jetzt bestehenden Functionen des Körpers regulirt, sondern auch indirect die progressive Entwickelung verschiedener körperlicher Bildungen und gewisser geistiger Eigenschaften beeinflusst hat. Muth, Kampfsucht, Ausdauer, Kraft und Grösse des Körpers, Waffen aller Arten, musikalische Organe, sowohl vocale als instrumentale, glänzende Farben und ornamentale Anhänge, Alles ist indirect von dem einen oder dem andern Geschlechte erlangt worden, und zwar durch den Einfluss der Liebe und Eifersucht, durch die Anerkennung des Schönen im Klang, in der Farbe oder der Form; und diese Fähigkeiten des Geistes hängen offenbar von der Entwickelung des Gehirns ab.
Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Character und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn er aber zu seiner eigenen Heirath kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. Er wird nahezu durch dieselben Motive wie die niederen Thiere, wenn sie ihrer eigenen freien Wahl überlassen sind, angetrieben, obgleich er insoweit ihnen überlegen ist, dass er geistige Reize und Tugenden hochschätzt. Andererseits wird er durch blosse Wohlhabenheit oder Rang stark angezogen. Doch könnte er durch Wahl nicht bloss für die körperliche Constitution und das Aeussere seiner Nachkommen, sondern auch für ihre intellectuellen und moralischen Eigenschaften etwas thun. Beide Geschlechter sollten sich der Heirath enthalten, wenn sie in irgend welchem ausgesprochenen Grade an Körper oder Geist untergeordnet wären; derartige Hoffnungen sind aber utopisch und werden niemals, auch nicht einmal zum Theil realisirt werden, bis die Gesetze der Vererbung durch und durch erkannt sind. Alles was uns diesem Ziele näher bringt, ist von Nutzen. Wenn die Principien der Züchtung
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/392&oldid=- (Version vom 31.7.2018)