Die Ursache, warum Wasservögel so viel häufiger ein weisses Gefieder erlangt haben als die auf dem Lande lebenden Vögel, hängt wahrscheinlich von ihrer bedeutenden Grösse und ihrem starken Flugvermögen ab, so dass sie sich leicht vertheidigen oder Raubvögeln entgehen können, denen sie überdies nicht sehr ausgesetzt sind. Geschlechtliche Zuchtwahl ist folglich hier nicht beeinflusst oder zum Zwecke eines Schutzes besonders geleitet worden. Ohne Zweifel konnten bei Vögeln, welche auf dem offenen Oceane schwärmen, die Männchen und Weibchen einander viel leichter finden, wenn sie entweder durch ein völlig weisses oder durch ein intensiv schwarzes Gefieder auffallend gemacht wurden, so dass diese Farben möglicherweise zu demselben Zwecke dienen, wie die Lockrufe vieler Landvögel.[1] Wenn ein weisser oder schwarzer Vogel ein auf dem Meere schwimmendes oder an's Ufer geworfenes Aas entdeckt und auf dasselbe hinabfliegt, wird er aus grosser Entfernung gesehen werden können und wird andere Vögel derselben Art oder verschiedener Arten zu der Beute hinführen. Da dies aber ein Nachtheil für die ersten Entdecker sein würde, so würden diejenigen Individuen, welche die weissesten oder die schwärzesten waren, hierdurch nicht mehr Nahrung erlangt haben als die weniger auffallenden Individuen. Es können also auffallende Färbungen nicht zu diesem Zwecke durch natürliche Zuchtwahl allmählich erlangt worden sein.
Da die geschlechtliche Zuchtwahl von einem so fluctuirenden Elemente wie dem Geschmacke abhängt, so können wir einsehen, woher es kommt, dass innerhalb einer und der nämlichen Gruppe von Vögeln mit nahezu derselben Lebensweise weisse oder nahezu weisse Arten ebenso gut wie schwarze oder nahezu schwarze Arten existiren, wie z. B. weisse und schwarze Kakadu's, Störche, Ibisse, Schwäne, Seeschwalben und Sturmvögel. Es kommen gleichfalls gescheckte Vögel zuweilen in denselben Gruppen vor, z. B. der schwarzhalsige Schwan, gewisse Seeschwalben und die gemeine Elster. Dass ein starker
- ↑ Es mag hier auch erwähnt werden, dass von den Geiern, welche weit und breit durch die höheren Regionen der Atmosphäre, wie Seevögel über den Ocean, schwärmen, drei oder vier Species beinahe völlig oder grossentheils weiss sind, während viele andere Species schwarz sind. Diese Thatsache unterstützt die Vermuthung, dass diese auffallenden Farben den Geschlechtern helfen dürften, einander während der Paarungszeit zu finden.
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/226&oldid=- (Version vom 31.7.2018)