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Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/171

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oder kräftigt in hohem Maasse die socialen Instincte; doch haben derartige Meinungen zuweilen eine direct in Opposition zu diesen Instincten stehende Tendenz. Diese letztere Thatsache wird durch das Gesetz der Ehre sehr wohl erläutert, d. h. das Gesetz der Meinung von Unseresgleichen und nicht aller unserer Landsleute. Ein Verstoss gegen dieses Gesetz, – selbst wenn anerkannt werden muss, dass der Verstoss in strenger Uebereinstimmung mit der wirklichen Moral ist –, hat manchem Mann mehr Gewissensbisse verursacht, als ein wirkliches Verbrechen. Wir erkennen denselben Einfluss wieder in dem brennenden Gefühl der Scham, welches die meisten von uns selbst nach Verlauf von Jahren gefühlt haben, wenn sie irgend einen zufälligen Verstoss gegen eine unbedeutende, wenn nur einmal feststehende Regel der Etikette sich in’s Gedächtniss zurückrufen. Das Urtheil der ganzen Gemeinschaft wird durch eine gewisse rohe Erfahrung von Dem bestimmt werden, was auf die Länge der Zeit für alle Mitglieder das Beste ist. Dies Urtheil wird aber nicht selten in Folge von Ungewissheit oder von einem schwachen Vermögen des Nachdenkens fehlen. Daher sind die merkwürdigsten Gebräuche und Formen des Aberglaubens im vollen Gegensatz zur wahren Wohlfahrt und Glückseligkeit der Menschheit durch die ganze Welt so übermächtig geworden. Wir sehen dies in dem Entsetzen, welches ein Hindu fühlt, der seine Kaste verlässt, und in unzähligen anderen Beispielen. Es dürfte schwer sein, zwischen den Gewissensbissen, die ein Hindu fühlt, der der Versuchung nachgegeben hat, unreine Nahrung zu geniessen, und denjenigen zu unterscheiden, welche nach dem Begehen eines Diebstahls gefühlt werden; die ersteren dürften aber wahrscheinlich die härteren sein.

Auf welche Weise so viele absurde Gesetze des Benehmens, ebenso wie so viele absurde religiöse Glaubensansichten entstanden sind, wissen wir nicht, ebensowenig woher es kommt, dass sie in allen Theilen der Welt sich dem menschlichen Geist so tief eingeprägt haben. Es ist aber der Bemerkung werth, dass ein beständig während der früheren Lebensjahre eingeprägter Glaube, und zwar so lange das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, fast die Natur eines Instincts anzunehmen scheint: und das eigentliche Wesen eines Instincts liegt ja darin, das man ihm unabhängig vom Nachdenken folgt. Ebensowenig können wir sagen, warum gewisse bewundernswerthe Tugenden, wie die Wahrheitsliebe, von einigen wilden Stämmen viel höher anerkannt werden


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/171&oldid=- (Version vom 31.7.2018)