Tafel 19. Zurückweisung des Iason und der Medeia durch Kirke.
Die Verfolgung seitens der Kolchier hörte nun auf, und die Argonauten setzten ihre Reise auf märchenhaftem Wege weiter fort: durch den Ister in die Adria und weiter durch den Eridanos (Po) und Rhodanos ins tyrrhenische Meer zur Insel der Kirke, der Schwester des Aietes. Bei dieser hofften sie Reinigung vom Morde des Apsyrtos zu finden und den Zorn des Zeus über diese Unthat zu besänftigen, auf dass sie „der Fahrt Abirrungen und die grausigen Stürme vermieden.“ (Apollonios. IV. v. 586). Als die Argo vor der Insel Aiaia erschien, hatte Kirke, nach einem blutig schrecklichen Traumgesichte, sich im Meere gewaschen.
„Drum auch wusch, als Eos erschien, in den Wellen des Meeres,
Da sie erwacht, sie die Locken sich hastiglich sammt den Gewändern.“
(Apollonios. IV. v. 670.)
So dem Bade entstiegen, leicht in die frischen Gewänder gehüllt und mit herabwallendem Haare trafen sie die Argonauten, als sie den Strand ihres Eilandes betraten. Iason führte ihr die Medeia entgegen, die gebeugt und tief verschleiert daher wandelte. Kaum hatte Kirke die Medeia erblickt, als sie, nach dem Pseudoorpheus (v. 1224 u. ff.) dieselbe sogleich anredete: „O, Unglückliche! Welch’ ein Schicksal hat Kypris über dich verhängt! Mir ist nicht unbekannt, um welcher Thaten willen ihr hierher nach unserem Eilande kommet; gegen den alten Vater habt ihr euch verschworen, und den Bruder habt ihr in unerhörter Weise ermordet. Ihr werdet, dess seid sicher, wenn ihr jene Verbrechen nicht sühnt, nicht in eure Heimath zurückkehren, bis ihr eure That, nach des Orpheus Weisheit, mit göttlichen Sühnungen an den Küsten Maleia’s austilget. Auch ist euch, die ihr mit so grossen Verbrechen befleckt seid, der Eintritt in unser Haus nicht verstattet. Indessen will ich euch gern Gaben senden, Brod und süssen ungemischten Wein und dazu auch reichlich Fleisch.“ So wurden die Schutzflehenden von der Insel hinweggewiesen.
Beim Apollonios (IV. v. 685–752) wird der Vorgang weitläufiger und reicher ausgeschmückt, aber auch bedeutungsvoller erzählt. Nachdem Iason und Medeia die Kirke am Strande getroffen, folgten sie dieser in den Palast. Kirke erkannte aus ihrem Verhalten, dass sie Schutzflehende seien und bereitete alsobald die Opfer. So fand die Entsühnung statt. Aber nun verlangte Kirke auch zu wissen, wer und woher die Jungfrau sei. Als Medeia sie anblickte, erkannte sie sie sogleich an den eigenthümlichen Augen, die das ganze Geschlecht des Helios hatte (v. 727), und nunmehr erfolgte dann die Hinwegweisung von der Insel.
Carstens ist der einfacheren Erzählung des Pseudoorpheus gefolgt, vielleicht nur um den landschaftlichen Hintergrund festzuhalten, denn in der Darstellung geschlossener Räume war er nicht eben stark. Während die Argo noch am Felsen befestigt wird und die übrigen Helden eben beginnen, dem Iason und der Medeia ans Land zu folgen, tritt Kirke diesen Beiden schon entgegen, mit der linken Hand die Geberde des Wegweisens machend. Auffallen müssen die männlichen Verhältnisse und Formen der Gestalt der Kirke, deren Geschlecht nur an der weiblichen Brust zu erkennen ist.
Herman Riegel (Hrsg.): Carstens Werke. Dritter Band: Der Argonautenzug. Alphons Dürr, Leipzig 1884, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Carstens_Werke_3._Band_Argonautenzug.pdf/28&oldid=- (Version vom 14.2.2021)