Tafel 14. Begegnung der Argo mit Aietes.
Als die Helden nun den Phasis hinauffuhren, sahen sie die Burg des Aietes und den Hain des Ares, in welchem das goldene Vliess hing. Noch unschlüssig, wie sie ihre Beziehungen zum Aietes anknüpfen sollten, kam dieser, durch ein böses Traumgesicht erschreckt, an das Ufer des Phasis und erblickte da das fremde Schiff mit den fremden Kriegern. In der Orphischen Argonautika (v. 800 u. ff.) heisst es: „Aietes sahe die Argo und die vielen Helden, die gedrängt an den Rudern sassen und im Glanze ihrer Waffen den Unsterblichen glichen. Aber unter allen leuchtete der edle Iason an Schönheit hervor; so sehr hatte Here seine Bildung, seinen Wuchs und sein muthiges Ansehen erhöhet. Als beide nun aus der Nähe die Augen auf einander warfen, ward dem Aietes sowohl als den Minyern bange ums Herz. Denn beim ersten Anblick schimmerte Aietes auf seinem Wagen in goldglänzenden Gewändern wie ein Abbild des Helios; eine Krone, die flammende Strahlen warf, bedeckte sein Haupt und in der Hand hielt er einen Herrscherstab dem Blitze ähnlich. Zu seinen Seiten sassen seine beiden Töchter – Chalkiope und Medeia – sein Stolz und seine Freude. So fuhr er nahe ans Schiff. Schrecken ging aus von seinen Blicken. Und er erhub, laut und fürchterlich brüllend, also die donnernde Stimme: Saget, wer seid ihr? Von wannen kommt ihr? Und was treibt euch hierher in mein Gebiet? Schaut ihr meine Macht nicht und nicht die Stützen meines Zepters, die tapfern Kolchier, die kühn und schlachtenkundig selbst Ares mit seinem gewaltigen Speere nicht verletzen könnte?“ Die hier nun sich anschliessende kurze Verhandlung endigte mit der Weisung des Königs, ihm „zu gehorchen und den tapfersten und würdigsten unter sich auszuwählen, dass er hingehe, alle Abenteuer, die er demselben auferlegen würde, zu bestehen, und so das goldene Vliess zu gewinnen“. Hinter diesem Ausspruch verbarg Aietes seine Arglist.
Tafel 15. Iason und Medeia im Tempel der Hekate.
Während Aietes, der König von Kolchis, hoffte, die fremden Eindringlinge durch List zu bezwingen und zu vernichten, sollte ihm aus der eigenen Tochter, der mit Zauberkräften begabten Medeia, das Unheil erwachsen. Auf Bitten der Here und Athene nämlich entsandte Aphrodite den Eros, um das Herz der Medeia für Iason zu entflammen.
„Es brannte der Pfeil in dem Innern der Jungfrau
Unter der Brust der Flamme vergleichbar; immer wie schielend
Warf sie die Blicke auf Iason, die glühenden; häufiges Seufzen
Klemmt ihr das Herz in der Brust vor Aengstlichkeit; keinen Gedanken
Hegt sie als ihn, und es schmilzt ihr der Geist in der süssen Bedrängniss.“
So entstand, wie Apollonios (III. v. 286) erzählt, nach der Götter Willen die Liebe der Medeia zu Iason; und durch die Mittel, welche diese Liebe ihm bot, wurde der Letztere befähigt, die Thaten, welche der arglistige Aietes ihm, in der Hoffnung ihn zu verderben, auferlegt hatte, glücklich zu bestehen.
Aietes besass nämlich zwei Feuer schnaubende Stiere mit ehernen Hufen. Diese sollte Iason ins Joch spannen, mit ihnen ein steiniges Feld pflügen und
Herman Riegel (Hrsg.): Carstens Werke. Dritter Band: Der Argonautenzug. Alphons Dürr, Leipzig 1884, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Carstens_Werke_3._Band_Argonautenzug.pdf/24&oldid=- (Version vom 14.2.2021)