Tafel 13. Kampf gegen die Harpyien am Tische des Phineus.
Der schwierigste Theil der Fahrt stand den Argonauten jetzt bevor: die Durchschiffung des Bosporos und der Eintritt ins schwarze Meer. Durch den Strudel und die hoch anstürmenden Fluthen des Bosporos steuerte der erfahrene Typhis das Schiff glücklich hindurch, und die Seefahrer landeten anderen Tages bei der Wohnung des blinden Sehers Phineus, der ehedem in der thrakischen Salmidessos geherrscht hatte. Er hatte zuviel von den Rathschlüssen der Götter vorausverkündigt und war dafür schwer gestraft worden, indem er angesichts der reichsten Speisen zu ewigem Hunger verdammt wurde,
„Denn die Harpyien entrafften ihm gleich vor dem Munde die Nahrung,
Rasch anstürmend im Flug aus verborgenem Horst des Verderbens.“
(Apollonios, II. v. 223.)
Nach dem Geschicke aber sollten die Söhne des Boreas, Zetes und Kalaïs, die Harpyien verscheuchen und so Phineus von diesem Leiden befreien. Der Seher ahnte gleich bei der Ankunft der Helden, wer sie seien. Nachdem er ihnen seine Geschichte erzählt und den Boreaden mit heiligen Eiden versichert hatte, dass wegen ihrer Hülfe niemals göttlicher Zorn sie treffen würde, gingen diese ans Werk und vertrieben die furchtbaren Peiniger des Phineus. Doch tödteten sie dieselben nicht, da Iris dazwischen trat. Apollonios (II. v. 286–290), der das ganze Abenteuer sehr ausführlich beschreibt, sagt:
„Sie schwebt’ aus dem Aether
Himmelherab, und sie hemmte die That mit Worten der Güte:
Nicht ziemt’s, Boreas’ Söhne, dass ihr mit dem Schwerte verwundet
Zeus Harpyien, die Hunde des Mächtigen; selber beschwör’ ich’s
Jetzt mit dem Eid, dass sie nimmer belästigen künftig den Phineus.“
Carstens hat den Gegenstand ungemein treffend aufgefasst. Die Harpyien halten ihren Raub vom Tische des Phineus schon in den Krallen, aber Zetes und Kalaïs sind herangestürmt und haben sie vertrieben, so dass Phineus bereits ruhig einen Bissen zum Munde führen kann. Die übrigen Helden sehen theils staunend zu, theils drücken sie sich vor den Harpyien etwas zur Seite.
Nach dieser That feiern die Argoschiffer mit Phineus noch ein fröhliches Mahl, und dieser belehrt sie zum Dank für ihre Hülfe über Mancherlei ihrer künftigen Reise, besonders über die Einfahrt zum schwarzen Meere. Diese wurde gesperrt durch die Kyaneen oder Symplegaden, zwei an einander schlagende Felsen, die Alles, was zwischen sie gerieth, zermalmten. Noch kein Schiff war da hindurch gedrungen, aber die Argo fuhr mit Hülfe der Götter durch die gefährlichen Klippen, wie schon oben (S. 4) unter Anführung der Homerischen Stelle erwähnt worden ist. Seitdem standen die Felsen still und die Schifffahrt blieb geöffnet. Pindar (v. 332–339) singt:
„Aber nun hinstrebend in tiefe Gefahr,
Flehten sie zum Herrn der Schiffe,
Dass sie flöh’n aus schrecklich zermalmendem Stoss
Grauser Felshöh’n, welche, belebt und beweglich,
An einander stürzten in rascherem Lauf
Als ein Heer wild tosender Stürme. Doch jetzt
Hat diese Fahrt der Göttersöhne
Ihnen das Ende gebracht.“
Die Helden durchfuhren nun, der Küste Kleinasien’s folgend, das schwarze Meer bis zum Gestade von Kolchis, wo sie in den dort mündenden Phasis einliefen.
Herman Riegel (Hrsg.): Carstens Werke. Dritter Band: Der Argonautenzug. Alphons Dürr, Leipzig 1884, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Carstens_Werke_3._Band_Argonautenzug.pdf/23&oldid=- (Version vom 14.2.2021)