Zuweilen ist sich der Patient seiner Leitlinie nicht bewusst. Man sieht ihn manchmal auch am Werke, diese Leitlinie zu verstecken und durch gegenteilige Regungen, etwa durch Freigebigkeit unkenntlich zu machen. Der Wunsch, der ihn beispielsweise zur Mutter zieht, mag man ihn noch so sexuell gefärbt nachweisen, ändert, bewusst geworden, am Krankheitsbilde nichts. Erst wenn der Patient seine Gier nach dem Unerreichbaren, nach dem — der Natur der Sache nach — zu einem andern Gehörigen versteht und einschränkt, kann er gesunden.
Der masslose Stolz, den man in manchen dieser Fälle findet, gestattet dem Patienten nicht leicht das Verständnis für seinen Neid und für seine Eifersucht. Die Entwertungstendenz ist dagegen meist überstark entwickelt und liegt auf der Hand. Bosheit, Rachsucht, Hang zur Intrigue, bei geringeren Intellekten rohere Angriffstendenzen, auch sadistische und Mordinstinkte zeigen sich als Versuche einer Sicherung gegen das Unterliegen in der Rivalität. Furcht vor den Konsequenzen, wie lebhafte Besorgnis wegen des Befindens der Angehörigen. Ausmalung von Strafen, Fesselung und Elend sind die zugehörigen Sicherungen gegen Ausschreitungen des männlichen Protestes. Auch die Anfälle können sichernd eintreten, so z. B. wenn wie in unserem Falle ein psychoepileptischer Insult sich traumhaften Regungen des Vater- und Brudermordes anschliesst.
Vielleicht regelmässig spielt das Motiv verschmähter Liebe mit, und schafft die stärksten Hassregungen gegen umworbene Personen. Es ist mit Recht zu bezweifeln, dass Liebe bei gesunden Menschen einer solchen Umwandlung fähig wäre. Erst die Summe aller Machtimpulse, das überhitzte Persönlichkeitsgefühl solcher Menschen gehört dazu, sich des seelischen Besitzes einer zweiten Person gegen deren Willen bemächtigen zu wollen. Da der Neurotiker auch Alles haben will, wird er blind gegen natürliche Hemmnisse und fühlt in der Verschmähung seiner „Liebe“ seine empfindlichste Leitlinie getroffen. Nun schreitet er zur Rache: Acheronta movebo!
Man kann oft, falls man im Zweifel ist, welche von zwei Personen der Patient für sich in Anspruch nehmen will, ob den Vater oder die Mutter, das Gegenteil dessen annehmen von dem, was der Patient behauptet. Es wäre in der Regel zu schmerzhaft, sich die „verschmähte Liebe“ einzugestehen. Ein exaktes Resultat erscheint mir folgender Versuch zu ergeben: Man setzt den Patienten genau zwischen die fraglichen Personen, und wird nach einiger Zeit beobachten können, dass er sich der vorgezogenen Person genähert hat.
So konnte ich mich in dem Falle des Patienten, den ich nun auszugsweise beschreiben will, überzeugen, dass er die grössere Anziehung der Mutter verspürte, obgleich er, wenn wir allein waren, den Vater bei weitem vorzuziehen schien. Nicht selten beschimpfte er die Mutter, und es verging kein Tag, ohne dass er mit ihr in Streit gekommen wäre.
Eine in der Neurose häufig zu beobachtende Erscheinung fehlte auch hier nicht, war vielmehr in besonderer Ausprägung zu beobachten; die starke Vorschiebung eines pedantischen Charakterzuges, der wie im Kriege eine Eklaireurtruppe, die Aufgabe übernahm, mit dem „Feind“ in Fühlung zu kommen. Der Feind war in erster Linie die Mutter, und die täglichen Kämpfe entspannen sich regelmässig, weil den übertriebenen pedantischen Forderungen des Patienten bei der Mahlzeit, bei
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/96&oldid=- (Version vom 18.8.2016)