der Wäsche- und Kleiderbesorgung, bei Bereitung des Bades und des Nachtlagers unmöglich vollauf Rechnung getragen werden konnte. Unser Patient gewann so die Operationsbasis, von der nun die Umgehungsversuche ausgingen, um die Mutter doch vollkommen in seinen Dienst zu stellen. Wieder sehen wir einen neurotischen Charakterzug als Kunstgriff, mittelst dessen der Patient seinem V. Akt gerecht werden, sein Schema getreulich innehalten will, um die Mutter doch auch so zu beherrschen, wie er es beim Vater gemerkt zu haben vermeinte. „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!“ Dieser Gedankengang hatte in seiner Kindheit von ihm Besitz ergriffen, und so stand er bald der Mutter gegenüber voll Misstrauen, lauernd auf Herabsetzungen, auf Bevorzugung Anderer, voll gespannter Energie und trüber Erwartung, ob es ihm doch noch gelänge, sie für sich einzufangen. Nicht etwa, weil er sie liebte oder besitzen wollte, sondern weil er sie auch haben wollte, wie so viele andere Dinge, Schmucksachen, Bonbons, die er gar nicht hochschätzte, sondern im Schranke liess und dran vergass, sobald er sie einmal sein Eigen nannte. So war ihm der Besitz der Mutter nicht Selbstzweck, sein Begehren war durchaus kein libidinöses oder gar sexuelles, sondern die Mutter und ihre Distanz von ihm waren ihm zum Symbol, zum Massstab geworden für den Grad seiner Zurücksetzung. Und weil er das Weltbild, jede Begegnung, jede Beziehung zum weiblichen Geschlecht mit den gleichen Charakterzügen aufnehmen wollte, misstrauisch, voll Überempfindlichkeit, mit der gleichen trüben Erwartung einer Enttäuschung, zerrann ihm jeder Erfolg und jede Befriedigung. Er hatte ja nur Augen für Alles, was gegen ihn, gegen seinen Erfolg sprach, und was er erreichte, verlor allen Reiz für ihn. Er beantwortete das Problem seines Lebens mit dem Arrangement seiner Neurose. Er hielt sich um ein starkes Stück verkürzt, und dieses Stück machte der symbolisch zu fassende Verlust der Mutter aus.
Hätte man diesen Patienten, der an Angstzuständen, Migräne und Depressionen litt, etwa heilen können, wenn man ihm die Mutter wieder gab? In der Zeit, wo der Patient zum Arzte kommt, wäre ein solcher Versuch vergeblich. Die nachgiebigste Mutter, — viele von ihnen sind dauernd ihrem Sohne entfremdet, — könnte jenes Mass von Geduld und Aufopferung nicht aufbringen, das der Patient in seinem grenzenlosen Misstrauen und in seiner Machtgier verlangt. Als stets bereiter Anlass zu erneuten Heftigkeiten und Bedrängungen bleibt immer noch die Vergangenheit und die Erinnerung an frühere Entbehrungen. Wohl könnte dieser Versuch in der Kindheit glücken, sowie überhaupt die pädagogische Lösung dieses speziellen neurotischen Problems in einer schrittweisen Aufklärung, Verselbständigung des Kindes und in der sachgemässen Beruhigung über seine Zukunft liegt. Die Unsicherheit ist es, die solchen Kindern den Ausblick in die Zukunft verwirrt, eine Unsicherheit, deren organische und psychische Quellen wir bereits kennen gelernt haben.
In unserem Falle war es der Umstand, dass unser Patient als Kind bereits in der Säuglingszeit leicht zusammenzuckte und erschrak. Dieses Erschrecken von Säuglingen, oft schon als Nervosität gedeutet, ist offenbar ein organisches Erbteil und knüpft nach meinen Beobachtungen an eine ererbte Empfindlichkeit, — Minderwertigkeit, — des Gehörorgans an, so dass solche Kinder schon bei Geräuschen und Tönen zusammenfahren, bei denen andere noch ruhig bleiben. Für uns bedeutet
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)