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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/95

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Ebenso findet sich die Gier, Alles auch zu haben, in folgender Krankengeschichte, die noch deutlicher wie die vorige zeigt, wie der Patient diese Gier aus Stolz aus seinem Gesichtsfelde räumt, — „verdrängt“. Wir werden sehen, eine wie geringfügige Änderung durch die Aufhebung der Verdrängung und durch die Klarlegung des „Ödipuskomplexes“ vor sich geht. Desgleichen geht aus allen diesen Fällen hervor, dass diese Gier, Alles auch zu haben, die unsinnigsten Ziele verfolgt. Solche Kranke haben nur Augen, und zwar durch ihre Sucht nach einer Art von idealer Gleichberechtigung geschärfte, für Alles, was Andere in ihrem Kreise besitzen, soferne sie selbst von diesem Besitz ausgeschlossen sind. Sie könnten mehr haben als die Andern, und würden die Andern doch beneiden. Sie könnten Alles erraffen, was sie vorher den Andern missgönnt haben, und würden es dann freudlos beiseite schieben, um ihrer Begierde neue Ziele zu setzen. Und ihre Begierde bleibt ewig haften an jenen Zielen, die sie nicht erreicht haben. Dass sie zur Liebe und zur Freundschaft unfähig werden, ist leicht zu verstehen. Oft gelangen sie zu grosser Verstellungskunst und gehen auf Seelenfang aus, weil auch andere Personen Seelen beherrschen. Immer fürchten sie die Verkürzung und suchen sich weit im voraus zu sichern. Die Liebe der Eltern, die ein Bruder geniesst, dessen Schmuck, eine Heirat eines Bruders oder einer Schwester, ein Buch, eine Leistung Bekannter oder auch Unbekannter erfüllen sie mit Ingrimm[1]. Die Erstgeburt des Andern, eine gelungene Prüfung, Besitz oder Würden der Geschwister stürzen sie in Aufregungen, bereiten ihnen Kopfschmerz, Schlaflosigkeit und stärkere neurotische Symptome. Ihre ständige Furcht, einem älteren, jüngeren Bruder nicht gleichzukommen, kann sie unfähig zur Arbeit machen. Dann versuchen sie allen Entscheidungen und Prüfungen auszuweichen, kommen in das Stadium der Aggressionshemmung, treten oft in irgend einer Weise den Rückzug vor dem Leben an und berufen sich dabei auf ihre ad hoc geschaffenen Symptome, unter denen mir Zwangserröten, Migräne, allerlei Kopfschmerzen, Herzklopfen, Stottern, Platzangst, Zittern, Schlafzwang, Depression, Gedächtnisschwäche, Polydipsie und psychogene Epilepsie mehrmals aufgefallen sind.

Ich habe den Fall eines jüngeren oder jüngsten Bruders bei obiger Schilderung in den Vordergrund geschoben, weil ich ihn am häufigsten angetroffen habe, und weil er am ehesten in die Rivalität getrieben wird[2]. Dieser Fall ist nicht der ausschliessliche. Man findet auch ältere Geschwister oder einzige Kinder, selbstverständlich auch Mädchen in dieser Rolle. Die Rivalität kann auch in erster Linie dem Vater oder der Mutter gelten, in deren Bild die anzustrebende Überlegenheit häufig konkretisiert erscheint. Dann geht der „Ödipuskomplex“ aus dieser Sucht des disponierten Kindes hervor, ein Leitbild, eine leitende Fiktion für sein Wollen zu gewinnen, und dies geschieht bereits zu einer Zeit, wo noch nicht sexuelle Lust erstrebt wird, sondern der Auch-Besitz einer Person oder eines Gegenstandes, der Anderen gehört. Prädestinationsglaube und Gottähnlichkeitsgedanken bauen sich häufig als Erscheinungen des männlichen Protestes auf.

Anamnestisch lässt sich oft Kleptomanie erheben.


  1. So kann die bevorstehende Heirat eines Mädchens beim Bruder oder Vater, wenn diese neurotisch disponiert sind, zum Ausbruch einer Neurose führen. Das Arrangement von Verliebtheit kann dann „Incestregungen“ vortäuschen.
  2. Frischauf, Psychologie des jüngeren Bruders. E. Reinhardt, München 1912.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)