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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/94

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Ein Traum, gegen Ende der Kur geträumt, zeigt uns den ursprünglichen Leitgedanken der Patientin im Zusammenhang mit ihren aktuellen inneren Kämpfen. Sie träumte, „als ob sie krank und schwach auf einer Bank in einem Parke nahe der Wohnung ihrer Eltern sässe. Am Kopf trug sie zwei Badehauben. Da kamen von rückwärts zwei Mädchen, und eines davon riss ihr die eine Haube vom Kopfe. Sie griff nach dem Mädchen und hielt es fest, während das andere Mädchen verschwand, und drohte mit der Anzeige. Eine arme schlecht gekleidete Frau kam herbei und sagte ihr, das Mädchen heisse Velicka. Hierauf ging sie zu ihrer Mutter, um sich zu beklagen. Die Mutter gab ihr einen Korb voll Eier und sagte, sie kosteten 5 Gulden. Sie nahm 2 Eier in die Hand und sah, dass sie gross und schön seien.“

Die Situation auf der Bank, ihre Müdigkeit und die Badehauben deuten auf eine hydropathische Kur, die sie vor meiner Behandlung insbesondere zur Beseitigung ihrer Schlaflosigkeit unternommen hatte. Am Vortage des Traumes machte sie ihrer Tochter Vorwürfe, weil diese ihre Badewäsche in eigenen Gebrauch genommen hatte; sie besitzt auch zwei Badehauben wie im Traume, welche die Tochter ebenfalls öfters benützt. Velicka ist ein slavisches Wort, heisst gross. Die Tochter führt ein slavisches Adelsprädikat. Die schlecht gekleidete Frau ist eine adelige Dame namens Grand-venier. Beiden gegenüber ist sie, die Bürgerliche verkürzt. Sie war unzufrieden, dass ihr Mann nicht geadelt wurde, hat sich aber aus Stolz ihren Neid nicht eingestanden. Sie fürchtet, dass ihr die Tochter alles wegnehmen könnte. Sie hatte zwei Töchter, die eine ist gestorben, verschwunden. Sie verklagt ihre Tochter öfters bei mir, dass sie sie so viel Geld koste. Sie habe ihr schon ihren ganzen Schmuck geschenkt. Schon seit ihrer Kindheit sei sie immer gegen andere verkürzt worden. Auch die Mutter habe sie immer zurückgesetzt, und habe sich, als Patientin schon verheiratet war, jede Kleinigkeit von ihr bezahlen lassen. Sie dagegen versorge die Tochter regelmässig mit Eiern, Wild, Milch, Butter etc. Und doch brauche sie soviel Geld. Vor ihrer Abreise nach Wien habe sie vergessen, eine Schuld im Betrage von 5 Gulden zu begleichen. Am Vortage schrieb sie ihrem Manne, er möge sie sofort bezahlen. Überhaupt müsse sie immer gleich zahlen, was immer sie kaufe[1]. Die Mutter habe an ihr schlecht gehandelt, im Traume mahnt sie an eine vergessene Schuld. Sie hat immer an ihr gespart. Im Traume erhält sie von ihrer Mutter das männliche Attribut (Testikeln), die ihr die Mutter bei der Geburt vorenthalten hat.

Wir sehen wieder, wie aus dem Gefühl der (weiblichen) Verkürztheit der männliche Protest sich im Traum gegen weitere Schädigungen wendet. Dieser Traum zeigt uns den Versuch der Patientin, in Gedanken weiteren Verkürzungen vorzubeugen und die Tochter anzuklagen, dass sie ihr wie die Mutter alles weggenommen, — vorenthalten habe.


  1. Die Befürchtung, durch weitere Ausgaben verkürzt zu werden, würde die Verwendung der Charakterschablonen von Geiz und Sparsamkeit nahelegen. Diesen mütterlichen, nach ihrer Wertung weiblichen Zügen weicht sie durch einen Zwang im Voraus zu zahlen aus und zeigt sich durch Freigebigkeit[WS 1] der Mutter überlegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Freigebigbeit
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/94&oldid=- (Version vom 10.12.2022)