sich so, als ob seine Fiktion eine Wahrheit wäre. Er handelt unter der stärksten Nötigung und rettet sich zu seinem selbstgeschaffenen Gott, den er als wirklich empfindet. Und so empfindet er sich zugleich als Weib und als gesicherter Übermann, letzteres in der Reaktion des übertriebenen männlichen Protestes. Die Spaltung der Persönlichkeit entspricht dem psychischen Hermaphroditismus, der Formenwandel ist ein mannigfacher, drückt sich beispielsweise in der Vereinigung von Verfolgungs- und Grössenideen, von Depression und Manie aus, während die Fixierung als Selbstschutz durch relative Insuffizienz oder absolute Schwäche der korrigierenden Bahnen erleichtert wird. Hebt man in der Freudschen Gleichung der Dementia (Jahrbuch Bleuler-Freud 1911) die hineingetragene Sexualisierung auf, kürzt man sie auf beiden Seiten um den überflüssigen Faktor der Libido, so kommt unsere viel tiefer liegende Formel des psychischen Hermaphroditismus mit männlichem Protest zum Vorschein, gegen die Freud in seiner Arbeit, ihre wahre Bedeutung verkennend, polemisiert.
Um auf die Krankengeschichte zurückzukommen, sei noch erwähnt, dass die Patientin in dem Gefühle ihrer Verkürztheit verschiedene Formen des männlichen Protestes bevorzugte. So brachte sie es nicht über sich, tolerant gegen Leistungen der Männer zu sein. Sie konnte da recht scharf Kritik üben, besonders wenn sich einer überheben wollte. In diesen Fällen trifft es sich nicht selten, dass gerade Ärzte mit selbstsicherem Auftreten, wie es vielen zur Krankenbehandlung nötig erscheint, von ihr mit neurotischer Heftigkeit und ebensolchen Mitteln bekämpft wurden. Freilich leitete sie dabei noch eine Art Instinkt, der ihr die Einfügung in ärztliche Gebote aus Rücksicht auf den Zweck ihrer Krankheit verbot. Aber es kam zuweilen so weit, dass eine harmlose ärztliche Einflussnahme mit Erbrechen und Üblichkeiten beantwortet wurde, wobei Patientin nie verabsäumte, auf den „fehlerhaften“ Eingriff des Arztes hinzuweisen. Man darf bei dieser Art von Erscheinungen die Ruhe nicht verlieren, muss vielmehr darauf hinweisen, dass diese Reaktion ein Teil des Ganzen, eine Formverwandlung des ursprünglichen Neides gegenüber dem Manne, später gegenüber dem vermeintlich Überlegenen vorstellt.
Dabei machte die Patientin von gewissen Privilegien ihrer Krankheit einen ausgedehnten Gebrauch. Vor allem konnte sie sich allen gesellschaftlichen Verpflichtungen, die ihr ihre Rolle als Hausfrau und als hervorragende Persönlichkeit einer Provinzstadt auferlegte, soweit entziehen, als sie nur wollte. Sie empfing wohl Besuche, denen sie ihr Leid klagte, erwiderte aber nur in Ausnahmsfällen und sicherte sich so, wie es regelmässig bei Nervösen geschieht, eine bevorzugte, privilegierte Stellung. Nebenbei war es ihr dadurch ermöglicht, Vergleichen und Musterungen, in unserem Sinne also Prüfungen auszuweichen, wozu gesellschaftliche Veranstaltungen in der Regel Anlass geben. In den letzten Jahren schreckte sie ausserdem noch der Gedanke, dass sie infolge ihres zunehmenden Alters der Möglichkeit einer Wirkung auf Männer beraubt war. Eine Freundin zeigte ihr in nächster Nähe, wie lächerlich jugendliches Gebaren einer alternden Frau von der Gesellschaft empfunden wird. Und so entschloss sie sich, in ihrer Tracht mit besonderer Schärfe auf ihr Alter hinzuweisen, wobei der herbe Gedanke an die Oberfläche des Bewusstseins drang, dass ein Mann in ihren Jahren durchaus noch nicht in die Ecke gestellt sei.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/88&oldid=- (Version vom 31.7.2018)