Es war seit jeher von ihr mit Bitterkeit empfunden worden, dass sie ihr Leben in einer Provinzstadt zubringen musste. Instinktiv drängte sie in mancherlei Weise auf eine Übersiedelung nach Wien. Doch war eine solche im offenen Kampf gegen den um viele Jahre älteren Gatten nicht zu erreichen, weil dessen unversiegbare Liebenswürdigkeit und Nachgiebigkeit in allen anderen Punkten sie entwaffnete. Sie verfeindete sich aufs heftigste mit ihrem Bruder und arrangierte eine unglaubliche Angst vor einem Zusammentreffen mit diesem in dem kleinen Städtchen. Als dies nicht genügte, stellte sich eine unüberwindliche Schlaflosigkeit ein, als deren Hauptursache sie das nächtliche Wagengerassel vor den Fenstern ihres Schlafzimmers beschuldigte. So erzwang sie eine zeitweilige Übersiedelung nach Wien, bezog in der Nähe der Wohnung ihrer Tochter ein Heim, dessen himmlische Ruhe sie immer hervorhob, wo sie auch ihren Schlaf wiederfand.
Seit ihre Tochter in Wien wohnte, war ihr die kleine Provinzstadt immer mehr verhasst geworden. Die Analyse ergab in Übereinstimmung mit den anderen Richtungslinien, dass sie die Tochter um ihren Vorrang, zu dem sich auch ein Adelsprädikat gesellte, heftig beneidete. Auch sie wollte in Wien wohnen, und hätte dieses Vorhaben längst ausgeführt, wenn ihr nicht in Wien eine neue Gefahr gedroht hätte, und zwar die Ausgaben der Tochter aus eigenen Mitteln decken zu müssen.
Die Rivalität mit der in Wien wohnenden Tochter lag völlig im Unbewussten und deckte eine kindliche Richtungslinie: die verzärtelte ältere Schwester übertreffen zu wollen. Auch diese Richtungslinie erwies sich als Äquivalent der grundlegenden, die dahin ging, die grössere Geltung zu haben, als ob sie ein Mann wäre.
Durch die starken Geldausgaben, zu denen sie in Wien genötigt war, kam ein Widerspruch in ihren männlichen Protest. Der Neurotiker mit seinem peinigenden Gefühle der Verkürztheit lässt sich ungestraft nichts nehmen. Er empfindet eine weitere Verkürzung als Verminderung seines Persönlichkeitsgefühls und gemäss seiner Leitlinie so, als ob dies eine Kastration, eine Verweiblichung, eine Vergewaltigung wäre, zuweilen auch im Bilde einer Schwangerschaft oder einer Geburt[1]. In unserem Falle traten besonders die analogischen Empfindungen einer Schwangerschaft zutage, Üblichkeiten, Bauchkrämpfe und Zwangsgedanken einer bestehenden Gravidität machten sich geltend, Schmerzen in den Beinen stellten eine Phlegmasia alba dolens vor, während eine hartnäckige Obstipation zum Teil einen Vaginismus in der „Analsprache“ symbolisierte, zum Teil die Ausgaben symbolisch zu verhindern suchte und drittens die Unfähigkeit des selbständigen Gebärens auszudrücken versuchte.
Ein tieferes Verständnis der Neurosenausdrucksweise scheint mir unmöglich ohne Kenntnis des von mir aufgedeckten „0rganjargons“. Die Folklore kennt diese Tatsache in den Äusserungen der Volkssprache und Volkssitten. Freud hat diesen Jargon missverstanden und hat
- ↑ Das heisst: die Denkoperation geschieht nicht entlang dem Realen, sondern gerät auf Analogien und Symbole, deren fälschende Affektbegleitung die Angriffsbereitschaft des Nervösen steigert. Letzteres aber entspricht der unbewussten, leitenden „opinio“. Die Verbildlichung, das Symbol, die Analogie stehen als „Junktim“ im Dienste der Aggression, zu der das Persönlichkeitsideal den Nervösen zwingt. Die Frau als Sphynx, der Mann als Mörder etc.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/89&oldid=- (Version vom 31.7.2018)