wie ich es auch bezüglich des Schuldgefühls (s. über neurotische Disposition l. c.) gezeigt habe, und kommen späterhin sozusagen als Schalen zur Verwendung, die sich mit anderem Inhalt füllen. Dann heisst es später, die Eltern wären nicht genug zärtlich gewesen, oder hätten das Kind verhätschelt, oder hätten insbesondere in der Masturbationsperiode nicht genug acht gegeben usw. Kurz wir beobachten bei diesen Formulierungen einer Stellung zu den Eltern und später zur Welt eine Formenwandlung, wie sie für Leitlinien, die einen praktischen Zweck verfolgen, nötig ist, und wir sehen oft ein anderes Gesicht, das auf die aktuelle Situation zugeschnitten ist. Dann ist der Weg zurückzuverfolgen, den die Formenwandlung durchgemacht hat. Dabei bedient sich die analytische Methode des Mittels der Reduktion, der Simplifikation (Nietzsche), der Abstraktion. Neben der Formenwandlung spielt eine grosse Rolle die Verstärkung oder Abschwächung der leitenden Fiktion. Je unsicherer sich der Patient fühlt, um so mehr drängt ihn eine unbewusste Tendenz dazu, seine Leitidee zu grösserer Intensität zu bringen, sich von ihr abhängig zu machen. Ich folge hier gerne der geistreichen Anschauung Vaihingers, der zur Geschichte der Ideen geltend macht, dass sie historisch betrachtet eine Neigung zeigen, aus einer Fiktion (einer unwahren, aber praktisch wertvollen Hilfskonstruktion) zu Hypothesen und später zu Dogmen zu werden. Dieser Intensitätswandel charakterisiert im allgemeinen in der Individualpsychologie das Denken des Normalen (Fiktion als Kunstgriff), des Neurotikers (Versuch, die Fiktion zu realisieren) und des Psychotikers (unvollständiger aber sichernder Anthropomorphismus und Realisierung der Fiktion: Dogmatisierung). — Die stärkere innere Not sucht den Ausgleich durch Stärkung der sichernden Leitlinien. Deshalb wird man regelmässig Äquivalente der neurotischen und psychotischen Leitlinien und Charaktere beim Normalen finden, die hier jeweils korrigiert werden können, um widerspruchslos an die Wirklichkeit angenähert zu werden. Reduzieren wir die entblössten Leitlinien dieser Patientin und erlösen wir sie aus Formen- und Intensitätswandel, indem wir sie statt der später entwickelten Leitlinien in ihrer Grundform einsetzen, so lautet diese: ich bin ein Weib und will ein Mann sein! Der normale Mensch richtet sich auch zeitlebens nach dieser Formel. Sie verhilft ihm, sich unserer männlichen Kultur anzugliedern, ja sie verleiht dieser einen steten Antrieb zur „Vermännlichung.“ Aber sie ist bloss zur Berechnung da, etwa wie eine Hilfslinie bei einer geometrischen Konstruktion. Ist das Resultat, das höhere, männlich gewertete Niveau erreicht, so fällt sie aus der Rechnung. (Vaihinger.) Bezüglich des Mythus, einer Leitlinie des Volkes, beklagt Nietzsche seine Umwandlung ins Märchen, und fordert seine Umwandlung ins Männliche. — Der Neurotiker unterstreicht diese Fiktion, nimmt sie allzuwörtlich und versucht ihre Realisierung zu erzwingen. Ihm ist nicht die Einfügung der Zweck, sondern die Geltendmachung seines männlichen Prestiges, was zumeist in der überspannten Form unerreichbar oder durch innere Widersprüche im männlichen Protest, durch die Furcht vor einer drohenden Niederlage gehindert ist, ohne dass der Patient die Bedeutung oder Tragweite seiner grossenteils unbewussten Fiktion erkennt. Aber auch ihn hindert das grössere Unsicherheits- und oft unbewusste Minderwertigkeitsgefühl an der richtigen Einschätzung seiner Fiktion. Der Psychotiker benimmt
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/87&oldid=- (Version vom 31.7.2018)