und das Denken werden spielerisch, zugleich aber angriffsweise umgekehrt. Der hier angewendete Kunstgriff, sich männlich zu geberden, hat meist etwas von zerstörender Wut an sich.
Die Verwendung dieses „Umgekehrt“ im Aberglauben, etwa das Schicksal zu foppen durch die Erwartung des Gegenteils dessen, was man gerne möchte, ein häufiger Zug bei Nervösen, der ihre ganze Unsicherheit aufzeigt, führt uns wieder zur neurotischen Vorsicht zurück und lässt die grosse Bedeutung und die ungeheure Tragweite derselben im Seelenleben des Nervösen erkennen.[1]
Um diesen Kern der Vorsicht herum können sich je nach der Toleranz des Leitbildes oder entsprechend der Situation Züge von Wahrhaftigkeit, ebenso von Lügenhaftigkeit gruppieren, die immer das Streben nach voller Männlichkeit, das eine Mal in geradliniger Weise, das andere Mal auf einem Umweg zum Ausdruck bringen. Nahe verwandt sind ihnen Züge von Verstellung und Offenheit, von denen der erste Charakter deutlich das Gefühl der Verkürztheit, des Untenseins zum Ausgangspunkt nimmt. Stark antizipierende Sicherungstendenz zeigt der Charakterzug der Wehleidigkeit und Schmerzempfindlichkeit, der deutlich der Umgebung, aber auch dem Patienten zu Gemüte führt, wie er von allen Lebenslagen nur jene wählen kann, die schmerzfrei zu ertragen wären. Es versteht sich, dass die Antizipation von Geburtsschmerzen oft in die Konstruktion dieser Richtungslinie hineinspielt.
Den Anstrengungen der Vorsicht verwandt sind die in diesem Buche oft hervorgehobenen Erscheinungen des Zweifels, des Schwankens und der Unentschlossenheit der Nervösen. Sie stellen sich immer ein, wenn die Realität derart auf die leitende Fiktion einwirkt, dass in letzterer immer Widersprüche auftauchen, — wenn die Gefahr einer Niederlage, eines Prestigeverlustes durch Eingreifen der Wirklichkeit droht. Dem Nervösen bleiben dann im allgemeinen 3 Wege übrig, die von der Stärke des fiktiven Leitzieles abhängen, so dass die entwickelte Neurose ein entsprechendes Aussehen gewinnt. Der eine Weg ist die Stabilisierung des Zweifels und Schwankens als Operationsbasis, wie man es am deutlichsten bei Neurasthenikern, in der Zweifelsucht, in der Psychasthenie findet. Der zweite Weg führt zur Psychose, indem unter Konstruktion eines Wahrheitsgefühls[2] die Fiktion hypostasiert, vergöttlicht wird. Der dritte Weg führt zum Formenwandel der Fiktion unter Arrangement von Angst, Schwäche, Schmerzen etc., kurz auf neurotischem Umwege unter Benützung weiblicher Mittel zum männlichen Protest.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/201&oldid=- (Version vom 31.7.2018)