Unsere Betrachtung hat ergeben, dass sich die Charakterzüge, ihre prinzipielle Darstellung im Leben des Menschen, nach der Art von Richtungslinien für das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln als Kunstgriffe der menschlichen Psyche darstellen, die eine schärfere Ausprägung erfahren, sobald die Person aus der Phase der Unsicherheit zur Erfüllung ihrer fiktiven leitenden Idee gelangen will. Das Material zur Bildung der Charakterzüge ist im Psychischen allenthalben vorhanden und seine angeborene Verschiedenheit verschwindet gegenüber der einheitlichen Wirkung der leitenden Fiktion. Ziel und Richtung, der fiktive Zweck der Charakterzüge ist an den ursprünglichen, geradlinigen, kämpferisch-aggressiven Linien am besten zu erkennen. Not und Schwierigkeiten des Lebens zwingen zu Verwandlungen des Charakters, wobei nur solche Konstruktionen Billigung finden, die mit der Persönlichkeitsidee im Einklang stehen. So kommen die vorsichtigeren, zögernden, von der geraden Linie abbiegenden Charakterzüge zustande, deren Verfolgung gleichwohl ihre Abhängigkeit von der leitenden Fiktion ergibt.
Die Neurose und die Psychose sind Kompensationsversuche, konstruktive Leistungen der Psyche, die sich aus der verstärkten und zu hoch angesetzten Leitidee des minderwertigen Kindes ergeben. Die Unsicherheit dieser Kinder in Hinblick auf die Zukunft und auf ihren Erfolg im Leben zwingt sie zu stärkeren Anstrengungen und Sicherungen in ihrem fiktiven Lebensplan. Je fixierter und starrer ihr Leitbild, ihr individueller kategorischer Imperativ ist, um so dogmatischer und prinzipieller ziehen sie die Leitlinien ihres Lebens. Je voraussichtiger sie dabei werden, desto weiter spinnen sie bis über ihre Person in die Zukunft hinaus Gedankenfäden und organisieren an deren peripherem Ende, wo der Zusammenstoss mit der Aussenwelt erfolgen soll, als Vorposten ihrer psychischen Bereitschaften die notwendigen Charakterzüge. Mit seiner ungeheuren Feinfühligkeit heftet sich der prinzipielle, nervöse Charakterzug an die Wirklichkeit, um sie dem Persönlichkeitsideal gemäss zu verändern oder zu unterwerfen. Droht die Niederlage, so treten die neurotischen Bereitschaften und Symptome in Kraft.
Die dürftige Bedeutung des angeborenen Substrats zur Charakterbildung geht auch daraus hervor, dass die leitende Fiktion nur die brauchbaren psychischen Elemente sammelt und einheitlich gruppiert, nur jene Fähigkeiten und Erinnerungen, deren Begabung für das Finale sich herausstellt. In der neurotischen Umordnung der Psyche schaltet die leitende Fiktion unumschränkt und nützt die Erfahrungen nach ihrer Eignung aus, als ob die Psyche ruhendes, reales Material wäre. Dann erst, wenn die neurotische Perspektive wirksam ist, wenn die neurotischen Charaktere und Bereitschaften fertig sind, der Weg zum Leitideal gesichert ist, erkennen wir die Person als
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/202&oldid=- (Version vom 31.7.2018)