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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/200

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Die Schüchternheit als Attitude der Furcht vor der Entscheidung ist bei Nervösen öfters vom Charakterzug der Schweigsamkeit begleitet. Die Verwendbarkeit dieser Bereitschaftsstellung ist beispielsweise auch darin gelegen, dass sie wie eine Isolierung wirkt und der Umgebung die Angriffsflächen entzieht. Auch als Spielverderber zeigt der schweigsame Nervöse zuweilen seine Überlegenheit und herabsetzende Tendenz. Oder er arrangiert durch die Wortkargheit und durch den Mangel an Einfällen den Beweis, dass er den Andern, besonders wenn sie in der Mehrzahl sind, nicht gewachsen sei, insbesondere zur Liebe und Ehe nicht tauge. — In der Aufgreifung und Verstärkung des fiktiven Gegensatzes, in der Geschwätzigkeit, habe ich zuweilen das Suchen nach einem Beweis und das Bekenntnis gefunden, als ob der Patient kein Geheimnis bewahren könnte. Eine andere Form des Angriffs und der Entwertung findet man in der vorlauten, ungeduldigen Art manches Nervösen, jedem in die Rede zu fallen. Die Absicht wird oft dadurch deutlicher, wenn er jede Bemerkung mit einem „Nein“ oder „Aber“ oder „Im Gegenteil“ einleitet.

Ein Charakterzug, dem die Neurose viel von ihrer Schärfe und Bedeutung verdankt, der sich immer vorfindet und mit dem Trotz und dem Negativismus zu den stärksten Ausdrucksmitteln des männlichen Protestes gehört, besteht in der Tendenz, Alles anders, Alles umgekehrt zu wollen. Dieser Zug findet sich in der Kompensationsbestrebung ebenso wie in der Neigung zu neurotischen Kunstgriffen, er liegt in der Rechthaberei und in der neurotischen Entwertungstendenz und zeigt eine ungeheure Verwendbarkeit zum Angriff gegen die Umgebung. Er ist das Gegenstück zu dem oft konservativen, pedantischen Wesen des Nervösen, erlaubt ihm aber gleicherweise seine Herrschsucht zu betätigen. Im Kern des männlichen Protestes, wenn dieser prinzipiell und nach neurotischer Gegensätzlichkeit konstruiert ist, findet man das Streben nach Veränderung und Umkehrung. „Der Volksmund erklärt als das Wesen aller weiblichen Dialektik: das immer anders Wollen*, berichtet E. Fuchs in der „Frau in der Karikatur“. In Kleidung, Sitte, Haltung und Bewegung dringt immer auch, meist unter Vorwänden, etwas von dieser Bizarrerie durch. Eine meiner Patientinnen drehte sich häufig im Schlafe derart um, dass sie verkehrt liegend erwachte. Sie versuchte auch im wachen Zustande alles verkehrt zu machen. Eines ihrer Lieblingswörter war: „Umgekehrt!“ als Einwurf gegen Meinungen anderer. Der Wunsch oben zu sein, zu reiten, die Hosen anzuhaben findet man bei Patientinnen dieser Art ungemein deutlich zu Ausdruck gebracht. In der psychotherapeutischen Behandlung währt dieser Zug von Anfang bis zu Ende, kann, wie bei Katatonikern der Negativismus, stets vorausgesetzt werden und erstreckt sich auf die nichtigsten Dinge. Sehr häufig kommen diese neurotischen Widerspruchstendenzen in der Form zum Vorschein, der Arzt möge zu ihnen, nicht sie zum Arzte kommen. Man hüte sich im allgemeinen vor Voraussagungen bei der Behandlung der Nervösen, bei starker Umkehrungstendenz aber würde man jedesmal zu Schanden.

Das Oben wird zum Unten, das Rechts zum Links, das Vorne zum Hinten zu machen versucht, weil die leitende Fiktion „Umkehrungen“, d. h. die Verwandlung aus dem Weiblichen ins Männliche symbolisch verlangt. Worte, Schrift (Spiegelschrift), das moralische, das sexuelle Verhalten, das Träumen in Gegensätzen und (in umgekehrter Reihenfolge),

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/200&oldid=- (Version vom 31.7.2018)