Zum Inhalt springen

RE:Liber glossarum

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Enzyklopädisches Kompendium aus d. 8. Jh. n. Chr.
Band XIII,1 (1926) S. 6367
Bildergalerie im Original
Register XIII,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|XIII,1|63|67|Liber glossarum|[[REAutor]]|RE:Liber glossarum}}        

Liber glossarum nennen wir nach H. Useners und G. Löwes Vorgang ein großes aus dem 8. Jhdt. unserer Zeitrechnung stammendes enzyklopädisches Kompendium, bestehend ans zahlreichen alphabetisch angeordneten Auszügen teils grammatisch-rhetorischen, teils sachlichen Inhalts, von der einfachen Glossenform an, die aus einem Lemma mit einem oder mehreren Interpretamenten besteht, bis zu mehr oder weniger ausgedehnten Artikeln und förmlichen Abhandlungen aus verschiedenen religiösen oder profanen Werken, unter Zugrundelegung bestimmter Stichworte mit am Rande beigefügter Quellenangabe. Um eine Vorstellung von dem Umfang des Kompendiums zu ermöglichen, bemerke ich, daß der alte Codex Parisinus aus zwei getrennten Bänden besteht, deren erster (A-E) 115 Blätter von [64] 39 ✕ 57 cm umfaßt, während der zweite (F-Z) auf 246 Blätter angewachsen ist. Die Anordnung und Einrichtung des Ganzen zeigt das Faksimile, das meiner Abhandlung über den L. g. (Abh. der Königl. Sächs. Ges. d. Wiss. XIII 213ff.) angehängt ist. Wer der Verfasser dieses umfänglichen Werkes ist, wissen wir nicht. Zwar schreiben es französische Gelehrte einem gotischen Bischof Ansileubus zu, nach einer Notiz, die in dem Vorsetzblatte des alten Codex Cambracensis steht und früher auch im alten Parisinus gelesen worden ist; vgl. Nouveau traité de diplomatique tom. II (Paris 1755) S. 83f. Allein der Grund dieser Zuweisung ist nach dem klaren Wortlaut kein anderer als der, daß zwei frühere Gelehrte, Caseneuve und Catel, aus einem alten Glossar des ,Ansilenbus' geschöpft haben, das man mit dem I,. g. identifizierte. Casen eu v e gibt in seinem Werke ,Les Origines Françoises‘ (gedruckt 1694, aber früher verfaßt) eine Reihe von Zitaten aus einem Glossar, das er entweder schlechthin dem ,Ansileubus‘ oder einem ,gotischen Bischof Ansileubus‘ zuschreibt. Dieses Glossar war, wie es scheint, ein L. g., aber kein Exemplar der reinen Gattung, wie etwa der alte Parisinus oder der Cambracensis. Von Catel in seinen ,mémoires de l’histoire du Languedoc‘ (Toulouse 1633) kommen nur wenig Zitate in Frage; aber auch er beruft sieh auf ein Glossar des ,Ansileubus‘, an einer Stelle auf ein ,ancien Glossaire d’Ansileubus que j’ay escrit à la main et lequel j’ay extraict des archifs de l’abbaye de Moissac‘. Wenn dieses Glossar aus Moissac, wie es scheint, ein L. g. war, so war es nach Befund der Zitate ebenfalls kein ungetrübtes Exemplar. Nach Lage der Sache muß es als wahrscheinlich gelten, daß Caseneuve und Catel ein und dasselbe Exemplar in Händen hatten, eben jenes Glossar aus Moissac, das Catel aus dem dortigen Archiv hervorgezogen hat. Was aus diesem Glossar geworden ist, wissen wir nicht; jedenfalls haben wir keine weitere Spur von ihm. Der Name Ansileubus ist bezeugt und gut gotisch; vgl. Usener Rh. Mus. XXIV 384 = Kl. Schr. II 242. Arbois de Jubainville bei Berger (De glossariis et compendiis exegeticis quibusdam medii aevi, Paris 1879) 9. Daß aber dieser Ansileubus der Verfasser des L. g. gewesen sei, steht ausdrücklich weder bei Caseneuve noch bei Catel; die Beziehung zwischen L. g. und Ansileubus beschränkt sich vielleicht lediglich auf das Exemplar von Moissac. Denn daß von den vielen zum Teil uralten Handschriften dieses Werkes kein einziges auch nur die geringste Spur von einem Ansileubus aufweist, ist nicht zu übersehen. Damit ist dieser Teil der Autorfrage erschöpft.

Die Gebiete, aus denen der Verfasser sein Material entlehnt hat, sind mannigfaltiger Art. Ein erheblicher Teil ist glossematischen Ursprungs und zwar haben eine ganze Reihe anonymer Glossare, darunter auch die Glossae ‚abstrusa‘ des IV. Bandes des Corp. gloss. lat., beigesteuert. Zu den anonymen Glossaren treten die Glossae Placidi hinzu und zwar in der Rezension, die auch im Cod. Paris. nouv. acquis. 1298 vertreten ist (vgl. darüber Corp. gloss. lat. V praef. p. XIV); ebenso die glossae Vergilii, d. h. eine Sammlung [65] von Glossen und Scholien zu den Virgilischen Dichtungen, die für uns nur geringe Bedeutung hat. An diese glossographischen Bestandteile schließen sich die Synonyma Ciceronis an (Quellenzeichen: Ciceronis mit Abkürzungen), von denen oft jedes einzelne Synonymum der Reihe nach als Lemma, die übrigen als Interpretamente figurieren, so daß der an sich bescheidene Umfang der Sammlung zu mächtiger Größe anschwillt. Schließlich gehören noch die Differentiae hierher, die teils aus Isidor, teils aus einer anonymen Sammlung geflossen sind. Grammatische Artikel allgemeiner Art stammen aus Priscian, Audax und Phocas. Orthographische Notizen werden unter der Quellenangabe Pauli abbatis oder Pauli angeführt (vgl. Hagen Anecd. Helv. p. CXXVI). Einen großen Raum bean-spruchen die theologischen und biblischen Exzerpte. Die wichtigste Quelle sind ohne Zweifel die Schriften Isidors, vor allen die Origines, die in zahlreiche Artikel zerschlagen gradezu das Rückgrat der ganzen Sammlung bilden. Außer Isidor sind herangezogen die Schriften des Hieronymus, vor allen die Kommentare zu biblischen Büchern, ferner des Augustin, namentlich de civitate dei, des Ambrosius Hexaëmeron, die Instructiones des Eucherius, die Moralia und Dialogi Gregors d. Gr., die Werke des Fulgentius (nicht die Expositio sermonum antiquorum) und Hilarius sowie sporadisch einiger anderen. Die zahlreichen historisch-geographischen Artikel stammen teils aus Isidor, teils aus Glossen zu Orosius und Eutrop. Eine nicht geringe Rolle spielen die medizinischen Abschnitte; sie sind entweder aus dem 4. Buche der Origines geschöpft oder aus speziell medizinischen Werken, die den Namen des Galen oder Hippokrates tragen; auch Spezialschriften werden zitiert mit mehr oder weniger genauen, aber für die damaligen Benutzer leicht verständlichen Angaben. Die naturwissenschaftlichen Artikel stammen teils aus Isidor (Origines, de nat. rer.), teils aus dem Hexaëmeron des Ambrosius, teils aus dem sog. Physiologus, um nur das Wichtigste hervorzuheben. Aus Isidor. Hieronymus, Augustin usw. sind auch allerlei Exzerpte über verschiedene nicht theologische Antiquitäten entlehnt.

Aus dieser Übersicht über den Inhalt des L. g., bei der mancherlei Einzelheiten keine Berücksichtigung finden konnten, ergibt sich die Bedeutung dieses Werkes. Es ist, wie kaum ein anderes, vorzüglich geeignet, uns den Umfang der Interessen zu zeigen, die für die mittelalterlich-klösterliche Bildung des Abendlandes in Betracht kamen. Auf dieser Bedeutung beruht der Einfluß, den das Werk gehabt hat. Dieser Einfluß beschränkt sich nicht auf den Unterricht der damaligen Zeit; er findet auch darin seinen Ausdruck, daß das Kompendium die Grundlage für neue, enzyklopädische Werke verwandter Art geworden ist. So ist das sog. glossarium Salomonis zu einem großen Teile seines Materials vom L. g. abhängig; ja wir kennen sogar das Exemplar, aus dem dieses Material geschöpft ist (vgl. meine Schrift über den Lib. gloss. 244ff.). So hat Papias einen wichtigen Teil seines Elementarium aus dem L. g. entlehnt (vgl. Goetz S.-Ber. Akad. Münch. 1903, 267ff.). Das von [66] Thomas (S.-Ber. Akad. Münch. 1868 II 369ff.) veröffentlichte Glossar, das mit Abba pater beginnt, ist gleichen Ursprungs; ebenso das in nicht wenig Exemplaren vertretene griechisch-lateinische Glossar, ,Absida lucida` (vgl. Goetz a. a. O. 251), ein Beweis, wie man sogar für die Bedürfnisse des Griechischen auf eben diese Quelle rekurrierte. Das bekannte Leidener Lexikon für das Arabische hat die lateinischen Lemmata meist dem L. g. entnommen. Zahlreiche andere Entlehnungen habe ich a. a. O. 252ff. nachgewiesen. Durch diese Benutzer, vorzüglich durch Papias, wurde das Material weiter gegeben bis herab zu Johannes v. Genua, dem letzten hervorragenden Vertreter der mittelalterlichen Glossographie. Das Werk hat also für die Bildungsgeschichte des Mittelalters eine hervorragende Bedeutung.

Für die philologische Wissenschaft kommt der L. g. auch als Quellenwerk in Frage. Grade nach dieser Seite hin hat sich die wissenschaftliche Arbeit der neueren Zeit von Useners Aufsatz an bis zum Erscheinen meiner Arbeit über dieses Werk und die Mitteilungen des Corp. gloss. lat. lebhaft bemüht. Nächst Usener kommt H. Hagen in Frage, der namentlich in den Anecdota Helvetica über Synonyma und Differentiae sowie über die orthographischen Exzerpte, ferner im dritten Band der Virgilscholien über die Virgilglossen der Buchstaben A-E nach dem Cod. Bernensis, der nur diese Buchstaben umfaßt, eingehend gehandelt hat. Ich selber habe im V. Bande des Corpus die Placidusglossen ediert, aus den anonymen Glossaren nur Auszüge; denn die übrigen dort enthaltenen Glossen sind entweder aus andern Quellen bekannt oder nicht wichtig genug, um vollständig mitgeteilt zu werden. Auch ist in ihnen die ursprüngliche Reihenfolge, die vielleicht von Wichtigkeit werden konnte, durch die alphabetische Einreihung unwiederbringlich verloren. Die sämtlichen Handschriften zerfallen in zwei Klassen; die eine wird in meiner Ausgabe durch den alten Parisinus 11529 und 11530 aus dem 9. Jhdt. repräsentiert, die zweite Klasse vertritt der Codex Palatinus 1773 im Vatikan aus dem 10. Jhdt., den namentlich Wilmanns (Rh. Mus. XXIV 336ff. 599) und Usener herangezogen haben. Wie die übrigen Handschriften sich unter diese beiden Klassen verteilen, habe ich, zum Teil nach Loewe Prodr. 226ff., auf S. 234f. meiner Schrift darzulegen versucht, wo auch die Grundlagen meiner Klassifikation besprochen werden. Mit der Isidorüberlieferung des L. g. ist Prof. Anspach intensiv beschäftigt. Die Ausnutzung des sonstigen Materials, soweit sie überhaupt von Interesse ist, steht zurzeit noch aus.

Nach dieser knappen Analyse des L. g. kehre ich nochmals zur Autorfrage zurück, nicht zur Frage nach der Person als vielmehr darüber, welchem Lande der Verfasser zuzurechnen sei. Soweit ich die Sache übersehe, sind zwei verschiedene Wege eingeschlagen worden, um zu einer Beantwortung dieser Frage zu gelangen. Ich selber habe auf die auffallende Berücksichtigung hingewiesen, die Spanien in unserem Kompendium gefunden hat. Sehr ausgedehnt ist der Artikel über Spanien (aus Orosius, Solinus und Isidor); zahlreich sind die Erwähnungen [67] spanischer Örtlichkeiten (aus Isidor, Orosius und Eutrop); zwei ganze Kolumnen nimmt der Artikel über die Goten ein (in der Hauptsache aus Isidors Historia Gothorum und Orosius). Es kann das natürlich ein Zufall sein und ließe sich sehr einfach aus der Beschaffenheit der Quellen ableiten. War doch auch Orosius aus Spanien und von Isidor ist es bekannt, daß er ,ähnlich wie Cassiodor, obgleich von romanischer Herkunft, eine Begeisterung für die Gothen zeigt, die man .... als spanisches Nationalgefühl bezeichnen darf. Das letztere tritt dann auch ganz rein und offenbar in einer mit poetischem Schwung geschriebenen Lobrede auf Spanien hervor, die der Geschichte vorausgeschickt den Geist, worin sie geschrieben ist, ankündigt (Ebert). Immerhin ist dabei nicht zu übersehen, daß auch sonst mancherlei auf Spanien hinweist. Der in westgotischer Schrift geschriebene Cod. Paris. lat. Nouv. acquis. 1298, der in so enger Beziehung mit dem L. g. steht kommt aus dem im nördlichen Spanien gelegenen Kloster Silos. Der Abschnitt aus Isidors Gotengeschichte stammt nach Mommsen aus einer Rezension dieses Werkes, die nie die Alpen überschritten hat (vgl. Chron. min. II 265). Aus allen diesen Indizien glaubte ich annehmen zu dürfen, daß Spanien die Heimat des Werkes sei. Dem gegenüber möchte Lindsay, wie er mir brieflich andeutete, aus paläographischen Erwägungen im Anschluß an Traubesche Arbeiten lieber an Südfrankreich denken. Dazu möchte ich nur das eine bemerken, daß solche palaeographische Erwägungen zwar die Herkunft einzelner Exemplare dieses weit verbreiteten Werkes, weniger aber das Ursprungsland des Werkes selber aufzudecken im Stande sind. Doch wird man die näheren Darlegungen Lindsays abzuwarten haben.

[Vorstehender Artikel - wesentlichen eine revidierende Epitome des XI. Kapitels meines Einleitungsbandes - wurde bereits mehrere Jahre vor dem Erscheinen des I. Bandes verfaßt, gesetzt und für den Druck korrigiert. Inzwischen hat Lindsay nebst Schülern und Freunden die Spezialforschung aufgenommen und weitergefördert. Die seitdem erschienenen Beiträge von Lindsay , Thomson, Laistner, Rees und namentlich von dem genauen Kenner des L. g., J. F. Mountford, konnten zu einem Teile noch in den Addenda S. 310 aufgeführt werden; ebenda hat Wessner, soweit er das an der Hand meiner Exzerpte konnte, zu den Ergebnissen dieser Forschungen kurz Stellung genommen. Als spätere Arbeiten treten hinzu: Mountford Silvia, Aetheria or Egeria ? (the Class. Quart. XVII 1923, 40) und der längere Aufsatz desselben Gelehrten ,De mensium nominibus‘ (Journ. hell. stud. XLIII 1923, 102-116). Die ,Glossae medicinales‘ hat J. Heiberg (Det Kgl. Danske Videnskabernes Selskab, Historisk-filologiske Meddelelser. IX 1, 1924) auf Grund des Lindsayschen Materials sorgfältig herausgegeben. Da von den englischen Forschern eine vollständige Ausgabe des eigentlichen glossographischen Materials im Rahmen der ursprünglichen Umgebung geplant und im Werke ist, so wird vorerst das Erscheinen dieser Ausgabe abzuwarten sein, bevor zu ihren Ergebnissen Stellung genommen werden kann.]

[Goetz. ]