RE:Liber
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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(libellus) famosus, Schmähschrift | |||
Band XIII,1 (1926) S. 61–63 | |||
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Liber (oder libellus) famosus. Der Ausdruck umfaßt alle Arten von Schmähschriften und Pasquillen, die bei Paul. V 4, 15 aufgezählt sind wie carmen famosum, canticum , satira , epigramma, womit der Kreis der Möglichkeiten jedoch keineswegs geschlossen erscheint; denn Paulus bemerkt selbst ausdrücklich, daß auch derjenige strafbar sei, qui quid aliud alio genere composuit. Ob die Schmähschrift schon in dem XII-Tafelgesetz als Delikt unter Strafe gestellt worden war, das ist in unserer Literatur bestritten. Mit Rücksicht auf die Worte: si quis occentavisset sive carmen condidisset, quod infamiam faceret, flagitiumque alteri und Paul. V 4, 6: iniuriarum actio introducta est . . . lege duodecim tabularum de famosis carminibus sowie Cic. Tusc. IV 2. Hor. sat. II 1, 80. Arnob. adv. gent. IV fin. wird allgemein angenommen, daß die Verfolgung des Verfassers eines Schmähliedes schon in der XII-Tafelgesetzgebung die erste Regelung erfahren habe und daß auf dies Delikt kapitale Strafe gesetzt war (s. Mommsen Strafr. 714; zum Wort ,occentare‘ s. insbes. Usener Ital. [62] Volksjustiz im Rh. Mus. LVI 1ff.). Nachdem die Publizität mehr und mehr durch die Schrift vermittelt wurde, sei dann neben und vor das Schmählied die Schmähschrift getreten. Wider diese Auffassung der XII-Tafelworte haben sich neuestens Huvelin Les tablettes magiques et le droit Romain § 4 (Annales internat. d’histoire 1901 und ebenderselbe in Mélanges Appleton 1903). Esmein Nouv. Revue hist. 1902, 352 und Maschke Die Persönlichkeitsrechte (1903) gewendet, welche Schriftsteller die XII-Tafelbestimmung ausschließlich auf Fälle der Zauberei beziehen wollen. Diese Streitfrage mag hier auf sich beruhen. Sicher ist jedenfalls, daß, als das Delikt bestraft wurde, es nicht als Verletzung des Privaten, sondern als Gefährdung des Gemeinwesens behandelt und bestraft wurde und daß ,die Bestrafung der Verbalinjurie einsetzt mit der Bestrafung eines durch die Publizität der Begehung qualifizierten Falles‘ (Hitzig Injuria 58). Se erscheint denn in der Folge die öffentlich verbreitete Schmähschrift nicht nur als qualifizierte Injurie, sondern auch als Staatsverbrechen (Mommsen Röm. Str.-R. 565). Das uns für die spätere Zeit überlieferte Verbot der libri famosi lautet nach Ulpian (l. 5 § 9 Dig. de inj. et fam. lib. 47, 10): Si quis librum ad infamiam alicuius pertinentem scripserit, composuerit, ediderit dolove malo fecerit, quo quid eorum fieret, etiamsi alterius nomine ediderit vel sine nomine . . intestabilis ex lege esse iubetur. Wenn Rudorff, auf diese Stelle und auf Horat. sat II 1, 80 gestützt, behauptet, daß das Cornelische Gesetz Bestimmungen über libelli famosi enthalten habe, so ist ihm meines Erachtens zuzustimmen (dawider allerdings Zumpt Crim.-R. II 2. 45). Durch ein SC. wurde diese Bestimmung, wie Ulp. a. O. § 10 erwähnt, auf epigrammata und Schmähbilder ausgedehnt eadem poena ex senatus consulto tenetur etiam is, qui ἐπιγράμματα aliudve quid sine scriptura in notam aliquorum produxerit, item qui emendum vendendumve curaverit. Nach den bereits zitierten und den Fassungen bei Paul. V 4, 15. Gai. III 220 und Inst. IV 4. 1 fallen Schmähungen aller Art, sowohl in Prosa wie in Poesie, geschrieben oder gemalt, mit oder ohne Namensbezeichnung unter die Strafandrohung und sind Verfasser, Anstifter und Verbreiter mit strenger Strafe bedroht, und zwar zuerst mit Intestabilität, also ,Verlust des Rechtes Zeugnis zu leisten oder geleistet zu erhalten, also auch des Testierrechtes. (Mommsen a. a. O.), einer Geldstrafe (l. 5 § 9 Dig. de inj. 47, 10. Gai. III 220. Inst. IV 4), später auch Relegation und Deportation (Paul. V 4, 15. 17). Neben der Kriminalklage konnte der Beleidigte, wenn sein Name genannt war, auch die Zivilklage (a. iniur.) anstellen (l. 6. 1. 15 § 29 Dig. de injur. 47, 10).
Wenn auch Sulla dies Delikt, wie Cic. ad fam. III 11 mitteilt, unter das Crimen maiestatis subsumiert hatte, so hat diese Regelung sich fürs erste nur kurze Zeit erhalten; denn Tac. ann. I 72 berichtet uns ausdrücklich, daß ein SC. unter Augustus zuerst Schmähschriften in den Majestätsprozeß eingestellt habe (s. auch Suet. Octav. 55). Doch scheint es, daß - wie Rein Crim.-R. 380 ausführt - dabei, wenigstens vorzugsweise, [63] an Schmähschriften gegen die Kaiser gedacht war. Solche wurden auch späterhin immer als Majestätsbeleidigung behandelt (Suet. Tib. 59; Galb.?? Tac. ann. XIV. 40. Cass. Dio LVII 23. Quinct. V 10, 39; decl. 252. Tac. ann. I 72). Unter Tiberius geht diese Praxis fort und wird gegen Verfasser von Schmähschriften mit aqua et igni interdictio, sowie Deportation vorgegangen (Dio LVII 27). Über die im Laufe der Zeiten angewendeten Strafen s. Paul. sent. V 4, 15-17. l. 5 § 9 Dig. 47, 10. l. 5 Cod. Theod. 34, 5. l. 1 Cod. Theod. 9, 34. l. 2 Cod. Iust. 9, 36. Doch handelt es sich in späterer Kaiserzeit bei diesem Delikt fast immer um anonyme Verlenmdungs- und Anklageschriften (s. l. 1. 2. 3. 4. 7. 8 Cod. Theod. 9, 34 und l. un. Cod. Theod. 9, 36). Über eine auf l. 15 § 29 Dig. 47, 10 gestützte dritte Bedeutung von l. f. als Anzeige- oder Anklageschrift vgl. Rein a. a. O. 379. Solch’ anonyme Schmähschriften waren schon auf Augustus’ Befehl zu verbrennen gewesen (Cass. Dio LVI 27). Weitere kaiserliche Reskripte ergingen unter Constantin (l. 1-4 Cod. Theod. de fam. lib. 9, 34), und sollten nach ihnen solche Schmähschriften niemandem, dessen Ehre und Namen angegriffen war, Schaden bringen; ihr Autor sei auch dann, wenn er den Wahrheitsbeweis erbracht habe, strenge zu bestrafen und das Libell zu verbrennen. Valens verfügte (l. 5 u. 6 Cod. Theod. a. a. O.), daß der Finder einer solchen Schmähschrift dieselbe sogleich selbst verbrennen solle, widrigens er als Verfasser derselben zu behandeln sei; Theodosius bestimmt (l. 9 Cod. Theod. a. a. O.) dieselbe Strafe für denjenigen, der ein l. f. gelesen und es anderen mitgeteilt habe, und nach einem Erlaß von Arcadius (l. 10 Cod. Theod. eod.) soll derjenige, der eine solche Schrift gelesen, nicht sofort verbrannt und den Verfasser, wenn er ihn kennt, nicht angezeigt habe, mit dem Schwerte hingerichtet werden.
Literatur: Gothofredus ad Cod. Theod. de lib. fam. 9, 34. III 260. Stockmann De fam. lib., Lips. (1799). Platner Quaest. de jure crim. Rom. (1842) 463. Rein Crim.-R. 378ff. 531ff. (1844). Walter Gesch. d. röm. R.² § 760. (1845). Huschke Gaius. Beiträge zur Kritik u. zum Verständnis seiner Institutionen 118ff. (1855). Rudorff R. Rechtsgesch. II 355 (1859). Voigt XII Tafeln I 923 (1883). Mommsen Röm. Strafrecht 565. 794 (1899). Thedenat in Daremberg-Saglio 1904. Strachmann-Dawidson Problems of the Roman Criminal Law I 107 (1912).