RE:Arbitrium
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Schiedsrichterl. officium | |||
Band II,1 (1895) S. 412 (IA)–415 | |||
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Arbitrium (= arbitratus). Die Bedeutungen von A. stehen in genauer Beziehung zu den oben unter Arbiter dargelegten Abwandlungen des Arbiterbegriffes. A. ist 1) nach Arbiter Nr. 1 das schiedrichterliche officium, welches der Erwählte durch formlose Zusage den Parteien gegenüber übernimmt (A. recipit, so im praetorischen Edict Dig. IV 8, 3, 2; vgl. Recipere), dann das Schiedsverfahren (Cic. p. Rosc. com. 10f. Ped.-Paul. Dig. IV 8, 32, 16) und sehr oft (z. B. Ulp. Dig. IV 8, 17 § 6. 7) der Schiedsspruch (auch sententia, pronuntiatio genannt), endlich (Dirksen Manuale s. v. A. § 3) der das Schiedsgericht begründende Vertrag, das compromissum (Ulp. Dig. IV 8, 17, 3. Paul. Dig. IV 8, 19, pr., dazu Ulp. Dig. 8, 45), ähnlich wie iudicium unter anderem den Processvertrag anzeigt (o. S. 409 und vgl. Compromissum). Hier ist nur vom Verfahren und vom Schiedsspruch zu handeln. An die Regeln des Staatsprocesses ist der arbiter grundsätzlich nicht gebunden (vgl. aber Cod. Theod. II 8, 18 = Cod. Iust. III 12, 7 (6), 5). So weit ihm das Compromiss [413] den Weg nicht vorzeichnet, leitet er das Verfahren, wie es ihm passend scheint. Nur das Herkommen legt ihm gewisse Schranken auf, indem es die Lücken der Compromissverträge ausfüllt oder deren Auslegung beeinflusst; vgl. z. B. über die Zeit der Verhandlung Pomp. Dig. IV 8, 14, über den Ort Ulp. Dig. IV 8, 21 § 10. 11. Mit zum Herkommen mochte der Eid des Arbiter (o. S. 409) und die Beiziehung von Ratmännern (consilium, arg. Plin. ep. V 1, 5, dazu o. S. 408) gehören. Dass die Regel, welche die Verkündigung der Sentenz in Anwesenheit beider Parteien fordert, Ausnahmen zuliess, zeigt wohl Iul. Dig. IV 8, 47, pr. Der Arbiter darf Verfügungen, die er im Laufe des Verfahrens traf, abändern, nicht auch das Endurteil (Paul. Dig. IV 8, 19, 2). Ob und wie weit er das geltende Privatrecht bei der Fällung des Spruches zu beachten hat, darüber entscheidet lediglich das Compromiss. Doch ist die Sentenz um deswillen nicht anfechtbar, weil sie gegen das Recht oder die Billigkeit verstösst (Ulp. Dig. IV 8, 27, 2). Ausdrücklich schliessen die Quellen die Appellation aus: Cod. Iust. II 56 (Kr. 55), 1. Nur wenn dolus des Arbiter oder der Gegenpartei vorliegt, gewährt das klassische Recht dem Geschädigten eine Einrede (exceptio), wodurch er die wegen Nichtbefolgung des Urteils gegen ihn erhobene Strafforderung zurückweisen kann (Ulp. Paul. Dig. IV 8, 31 und 32, 14). Vgl. im übrigen über die Kraft des Schiedsspruchs im älteren und im Iustinianischen Recht das oben unter Arbiter Nr. 1 Gesagte. Dort auch Litteratur; besonders zu vergleichen: C. Weizsäcker Röm. Schiedsrichteramt 79–94. B. Matthias Entwicklung d. röm. Schiedsgerichts 79–130. Keller Institutionen 123–130.
A. heisst 2) nach Arbiter Nr. 2 das officium, die Obliegenheit des mehr oder minder zu freier Würdigung des Rechthandels (Puchta Institutionen¹⁰ I § 154, q) berufenen ‚Geschworenen‘ (Ulp. Dig. XII 3, 4, 2. IV 4, 14, 5), ferner der so geartete Process und das Processverhältnis (Pomp. Dig. X 2, 47, pr. Paul. Dig. XXXIX 2, 23, 2) im Gegensatz zum iudicium im engeren Sinn, dann der im Verfahren mit actio arbitraria im engeren Sinn (Bd. I S. 309f.) vom Geschworenen erlassene Restitutions- oder Exhibitionsbescheid (Gai. IV 163. Paul. Dig. VI 1, 35, 1), wozu die Formel z. B. mit den (in Dig. IV 4, 14, 11 unverändert überlieferten) Worten neque ea res arbitrio iudicis restituetur ermächtigte, endlich die Formel selbst, sofern sie das Mittel ist, durch welches arbiträre (bonae fidei und andere) Processe begründet und geordnet wurden. Belegt ist die letzterwähnte Bedeutung besonders durch Cic. off. III 70 (aus Quintus Mucius): in omnibus iis arbitriis, in quibus adderetur ‚ex fide bona‘ und III 61: iudiciorum haec verba maxime excellunt: in arbitrio rei uxoriae ‚melius aequius‘, in fiducia (statt in arbitrio oder iudicio fiduciae; vgl. Cic. ad fam. VII 12, 2) ‚ut inter bonos bene agier‘ (Wlassak R. Processgesetze I 78f. 85. 88, 4. II 13f. 51ff.; Litiscontestation 14–20). Die wichtige Äusserung von Celsus Dig. XIX 1, 38, 1 gehört hierher nach der von Karlowa Civilprocess z. Zeit d. Legisactionen 132ff. vertretenen Deutung; anders Bekker Actionen I 314f., dazu Bechmann Kauf I 539. 637f. Unverkennbar verhält [414] sich A., wo es den Process und die Processurkunde anzeigt, zu iudicium wie die Art zur Gattung (s. o. Arbiter Nr. 2). Arbitria (mit Legisactio) weist schon das Zwölftafelrecht auf: die Actio aquae pluviae, familiae herciscundae, finium regundorum (s. Legisactio [per iudicis postulationem]) und das A. litis aestimandae (o. Bd. I S. 688f.). Ziemlich alt mögen auch die dem Ausspruch des praetorischen Interdicts folgenden arbitria sein. Seit welcher Zeit der Streit über die formlos begründete Kauf-, Miet-, Gesellschaftsschuld u. dgl. zum A. mit einer auf bona fides (oder ähnliches) gestellten Schriftformel führte, das ist zuverlässig nicht zu ermitteln (s. o. Bd. I S. 305f. und Iudicium [bonae fidae]). Sicher bezeugt sind die meisten von den Klassikern bonae fidei iudicia genannten Formeln und Processe zuerst bei Cic. aa. OO. und top. 66. Rechtsmittel zum Schutz der von Cicero genannten Sachen wird es schon weit früher gegeben haben, doch wahrscheinlich ohne bonae fidei-Clausel. Die Unterscheidung der iudicia und der arbiträren Processe ist durch den Wegfall der Klagformeln seit Constantius nicht beseitigt.
Litteratur unter Legisactio [per iudicis postulationem] und Iudicium [bonae fidei]; vgl. besonders Zimmern Geschichte d. röm. Privatrechts III § 60. Savigny System V § 218. Keller-Wach R. Civilprocess § 7. 17 (wo der Gegensatz von iudicium und A. wohl zu stark betont ist). Bekker Actionen I 160–168.
3) Mit dem Worte A. oder arbitrari konnten die Juristen auch die häufig nichtrichterliche Thätigkeit des vom Beamten bestellten ‚Gehülfen‘ (‚Hülfsrichter‘, Arbiter Nr. 3) bezeichnen, besonders die etwa gefällte Entscheidung: so Gai. Dig. XXXVIII 2, 35. Iul. Dig. XL 5, 47, 2. Ulp. Dig. XXV 3, 5, 25. Bei der Mannigfaltigkeit der den Gehülfen zugewiesenen Geschäfte muss auf die Aufstellung allgemein zutreffender Grundsätze verzichtet werden. Immer hatte sich der arbiter genau an die ihm erteilte Weisung zu halten, welche seine Aufgabe (partes) festsetzt: vgl. Afr. Dig. XLII 2, 7. Gegen die Processentscheidung durch den beauftragten arbiter war Appellation statthaft an den Auftraggeber. Paulus Dig. XLIX 2, 2 (wie Gai. Dig. II 8, 9) bezeugt die Appellation auch für den Fall der Bürgenprüfung (o. S. 411). Er fügt hinzu, dass der Beamte, ‚wie manche meinen‘, die Verfügung des arbiter selbst ohne Appellation umstossen durfte. Litteratur oben zu Arbiter Nr. 3.
4) Wenn die Parteien durch die einer Stipulation oder einem anderen Geschäfte beigefügte Clausel: boni viri arbitrio (nach Arbiter Nr. 4) oder arbitratu (z. B. bei Cato de agric. 145, 3. 146, 2. 149, 2. Ulp. Dig. L 8, 2, 13 Mo. 3, 2, vgl. Ulp. Dig. L 17, 22, 1. Paul. Dig. XIX 2. 24, pr. Cels. Dig. XXXII 43) die genauere Bestimmung gewisser Punkte des gewollten Rechtsverhältnisses dem Ausspruch eines redlichen und sachverständigen Schiedsmannes anheimstellten, so war doch die wirksame Abgabe eines solchen A. (wegen der Anfechtbarkeit s. o. unter Arbiter Nr. 4) nur dann gesichert, wenn auch die Person des Gutachters von vornherein (bei Verträgen durch Vereinbarung) feststand (vgl. Proc. Dig. XVII 2, 76 a. E.). Kam es zum Streit, [415] ohne dass sich die Beteiligten nachher über einen Gutachter einigten, so musste der ordentliche Richter die Rolle des bonus vir übernehmen. Eine besondere Hinweisung auf das A. boni viri in der Processformel ist nicht anzunehmen, auch nicht in der Actio ex stipulatu (vgl. Gai. IV 136). Besonders häufig kommt die Phrase boni viri a. in den praetorischen Stipulationen vor, wie sie im Album proponiert waren, so in den Stipulationen des Usufructuars, der Collationspflichtigen, aus der operis novi nuntiatio, iudicatum solvi u. a. (Rudorff Edictum 247ff. Lenel Edict 411ff.). Praxis und Wissenschaft haben das ständig gewordene boni viri arbitratu in diesen und anderen Verträgen mehr und mehr mit festem Inhalt ausgestattet, so dass der Gedanke an eine wirkliche Schiedsmannsthätigkeit dritter ganz zurücktritt (vgl. z. B. Ulp. Dig. VII 9, 1, 3. XLVI 7, 5, 3. L 16, 73: ‚recte‘ pro viri boni arbitrio est, andererseits Ulp. Dig. XLVI 1, 33 a. E.). Dadurch wurde das A. boni viri stipulationi insertum der doli mali clausula (s. Clausula) näher gerückt, obwohl ihr Gehalt stets verschieden blieb (in der cautio usufructuaria stehen sie nebeneinander). Die letztere gereicht nach richtiger Ansicht nur dem Gläubiger zum Vorteil, während das eingeschaltete boni viri a. bald dem Gläubiger bald dem Schuldner nützt. Eigenartig ist die Verwendung des boni viri a. neben dem Vorbehalt der causae cognitio in dem praetorischen Edicte Dig. XXVIII 8, 7, pr. (vgl. Pernice Ztschr. f. Rechtsgesch. Rom. Abt. XXVII 144, 2).
Gelegentliche Bemerkungen über das A. boni viri bei Bekker Ztschr. f. Rechtsgeschichte III 442–444; Actionen I 167f. 265, 26. 314f. M. Voigt Ius naturale I 608–610. 614f. IV 2 S. 410f. Bechmann Der Kauf I 638f. G. Triani in Studi giuridici off. al prof. F. Serafini (Firenze 1892) 165–168.