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Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil/Kapitel IV

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Kapitel IV
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aus: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil
Seite: 244–273
von: Ernst Cassirer
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KAPITEL IV
DIE SPRACHE ALS AUSDRUCK DES BEGRIFFLICHEN DENKENS. – DIE FORM DER SPRACHLICHEN BEGRIFFS- UND KLASSENBILDUNG
I. Die qualifizierende Begriffsbildung

Das Problem der Begriffsbildung bezeichnet den Punkt, an dem Logik und Sprachphilosophie sich aufs nächste berühren, ja an dem sie zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen scheinen. Alle logische Analyse des Begriffs scheint zuletzt an einen Punkt zu führen, an dem die Betrachtung der Begriffe in die der Worte und Namen übergeht. Der konsequente Nominalismus zieht beide Probleme in ein einziges zusammen: der Gehalt des Begriffs geht ihm in dem Gehalt und der Leistung des Wortes auf. So wird ihm die Wahrheit selbst zu einer nicht sowohl logischen, als vielmehr sprachlichen Bestimmung: „veritas in dicto, non in re consistit“. Sie betrifft eine Übereinstimmung, die nicht in den Dingen selbst, noch in den Ideen zu finden ist, sondern die sich ausschließlich auf die Verknüpfung der Zeichen, insbesondere der Lautzeichen, bezieht. Ein schlechthin „reines“, ein sprachloses Denken würde den Gegensatz von Wahr und Falsch, der erst im Sprechen und durch dasselbe erzeugt wird, nicht kennen. So führt die Frage nach der Geltung und dem Ursprung des Begriffs hier notwendig auf die Frage nach dem Ursprung des Wortes zurück: die Erforschung der Genesis der Wortbedeutungen und der Wortklassen erscheint als das einzige Mittel, um uns den immanenten Sinn des Begriffs und seine Funktion im Aufbau der Erkenntnis verständlich zu machen[1].

Die schärfere Betrachtung zeigt freilich, daß diese Lösung, die der Nominalismus für das Problem des Begriffs darbietet, insofern eine Scheinlösung bleibt, als sie in einen Zirkel ausläuft. Denn wenn die Sprache [245] hier die letzte, die im gewissen Sinne einzige „Erklärung“ der Begriffsfunktion abgeben soll, so kann sie doch andererseits in ihrem eigenen Aufbau eben dieser Funktion nirgends entbehren. Und der Zirkel, der hier im Ganzen begangen wird, kehrt nun auch im Einzelnen wieder. Die traditionelle logische Lehre läßt den Begriff „durch Abstraktion“ entstehen: sie weist uns an, ihn dadurch zu bilden, daß wir übereinstimmende Dinge oder Vorstellungen miteinander vergleichen und die „gemeinsamen Merkmale“ aus ihnen herauslösen. Daß die von uns verglichenen Inhalte schon bestimmte „Merkmale“ haben, daß sie qualitative Bestimmungen an sich tragen, nach denen wir sie in Ähnlichkeitsklassen und Ähnlichkeitskreise, in Arten und Gattungen abteilen können, wird hierbei meist als eine selbstverständliche, keiner besonderen Erwähnung bedürftige Voraussetzung hingenommen. Und doch liegt gerade in dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit eines der schwierigsten Probleme beschlossen, das die Begriffsbildung uns bietet. Hier vor allem erneuert sich die Frage, ob die „Merkmale“, nach denen wir die Dinge in Klassen teilen, uns schon vor der Sprachbildung gegeben sind oder ob sie uns vielleicht erst durch dieselbe geliefert werden. „Die Abstraktionstheorie“ – so bemerkt Sigwart mit Recht – „vergißt, daß, um ein vorgestelltes Objekt in seine einzelnen Merkmale aufzulösen, schon Urteile notwendig sind, deren Prädikate allgemeine Vorstellungen (nach gewöhnlicher Redeweise Begriffe) sein müssen; und daß diese Begriffe zuletzt irgendwie anders als durch solche Abstraktion gewonnen sein müssen, da sie den Prozeß dieser Abstraktion erst möglich machen. Sie vergißt ferner, daß bei diesem Prozeß vorausgesetzt wird, daß der Kreis der zu vergleichenden Objekte irgendwie bestimmt sei, und sie setzt stillschweigend ein Motiv voraus, gerade diesen Kreis zusammenzufassen und das Gemeinschaftliche zu suchen. Dieses Motiv kann, wenn nicht absolute Willkür herrschen soll, zuletzt nur das sein, daß jene Objekte zum Voraus als ähnlich erkannt werden, weil sie alle einen bestimmten Inhalt gemeinsam haben, d. h. daß bereits eine allgemeine Vorstellung da ist, mit Hilfe welcher diese Objekte aus der Gesamtheit aller ausgeschieden werden. Die ganze Lehre von der Begriffsbildung durch Vergleichung und Abstraktion hat nur dann einen Sinn, wenn, wie es häufig geschieht, die Aufgabe vorliegt, das Gemeinschaftliche der tatsächlich durch den allgemeinen Sprachgebrauch mit demselben Worte bezeichneten Dinge anzugeben und daraus die faktische Bedeutung des Wortes sich deutlich zu machen. Wenn verlangt wird, den Begriff des Tieres, des Gases, des Diebstahls usw. anzugeben, da kann man versucht sein, so zu verfahren, daß man die gemeinschaftlichen [246] Merkmale aller der Dinge, welche übereinstimmend Tiere, aller der Körper, welche Gase, aller der Handlungen, welche Diebstahl genannt werden, aufsucht. Ob es gelingt; ob diese Anweisung zur Begriffsbildung ausführbar ist, das ist eine andere Frage; sie ließe sich hören, wenn man voraussetzen könnte, daß es nirgends zweifelhaft ist, was man Tier, Gas, Diebstahl zu nennen habe, – d. h. wenn man den Begriff, den man sucht, in Wahrheit schon hat. Einen Begriff so durch Abstraktion bilden wollen, heißt also die Brille suchen, die man auf der Nase trägt, mit Hilfe eben dieser Brille[2].“ In der Tat bringt die Abstraktionstheorie die Frage nach der Begriffsform nur dadurch zur Lösung, daß sie, bewußt oder stillschweigend, auf die Sprachform rekurriert, womit indes das Problem nicht sowohl bewältigt, als vielmehr nur in ein anderes Gebiet zurückgeschoben ist. Der Prozeß der Abstraktion kann sich nur an solchen Inhalten vollziehen, die in sich schon irgendwie bestimmt und bezeichnet, die sprachlich und gedanklich gegliedert sind. Wie aber – so muß jetzt gefragt werden – kommt es zu dieser Gliederung selbst? Welches sind die Bedingungen jener primären Formung, die sich in der Sprache vollzieht und die für alle weiteren und komplexeren Synthesen des logischen Denkens die Grundlage bildet? Auf welchem Wege gelingt es der Sprache, dem Heraklitischen Fluß des Werdens, in dem kein Inhalt wahrhaft gleichartig wiederkehrt, zu entrinnen – sich ihm gleichsam gegenüberzustellen und aus ihm feste Bestimmtheiten herauszulösen? Hier liegt das eigentliche Geheimnis der „Prädikation“ als eines zugleich logischen und sprachlichen Problems. Nicht dies ist der Anfang des Denkens und Sprechens, daß irgendwelche in der Empfindung oder Anschauung gegebene Unterschiede einfach erfaßt und benannt, sondern daß bestimmte Grenzlinien selbständig gezogen, bestimmte Trennungen und Verknüpfungen vorgenommen werden, kraft deren sich nun aus der fließend immer gleichen Reihe des Bewußtseins klar geschiedene Einzelgestalten herausheben. Die Logik pflegt die eigentliche Geburtsstätte des Begriffs erst dort zu finden, wo durch bestimmte intellektuelle Operationen, insbesondere durch das Verfahren der „Definition“ nach genus proximum und differentia specifica, eine scharfe Abgrenzung des Bedeutungsgehalts des Wortes und eine eindeutige Fixierung desselben erreicht wird. Aber um zum letzten Ursprung des Begriffs zu gelangen, muß das Denken in eine noch tiefere Schicht zurückdringen, muß es die Motive der Verknüpfung und Trennung aufsuchen, die sich im Prozeß der Wortbildung selbst wirksam erweisen, und die [247] für die Unterordnung des gesamten Vorstellungsmaterials unter bestimmte sprachliche Klassenbegriffe entscheidend sind.

Denn die primäre Aufgabe der Begriffsbildung ist es nicht, wie die Logik unter dem Zwange einer jahrhundertealten Tradition zumeist angenommen hat, die Vorstellung zu immer größerer Allgemeinheit, sondern sie zu wachsender Bestimmtheit zu erheben. Sofern vom Begriff „Allgemeinheit“ verlangt wird, so ist sie doch nicht Selbstzweck, sondern sie dient nur als Vehikel, um zum eigentlichen Ziel des Begriffs, zum Ziel der Bestimmtheit zu gelangen. Bevor irgendwelche Inhalte miteinander verglichen und gemäß dem Grad ihrer Ähnlichkeit in Klassen geordnet werden können, deren eine die andere umfaßt, müssen sie selbst als Inhalte bestimmt sein. Hierzu aber wird ein logischer Akt der Setzung und Unterscheidung gefordert, durch den in dem stetigen Fluß des Bewußtseins erst irgendwelche Einschnitte entstehen, durch den das rastlose Kommen und Gehen der Sinneseindrücke gleichsam angehalten wird und gewisse Ruhepunkte gewinnt. Nicht die Vergleichung der Vorstellungen und ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen, sondern die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen ist daher die ursprüngliche und die entscheidende Leistung des Begriffs. Unter den modernen Logikern ist es vor allem Lotze, der dies Verhältnis am schärfsten erfaßt hat, wenngleich er sich in der Deutung und Darstellung, die er ihm gegeben hat, von den Fesseln, die ihm die logische Tradition auferlegte, nicht völlig zu befreien vermochte. Seine Lehre vom Begriff geht davon aus, daß die ursprünglichste Denkhandlung nicht in der Verknüpfung zweier gegebener Vorstellungen bestehen könne, sondern daß die logische Theorie hier noch einen Schritt weiter zurückzugehen habe. Damit Vorstellungen in der Form eines Gedankens verbindbar werden, bedürfen sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche sie überhaupt erst zu logischen Bausteinen werden. Über diese erste Leistung des Denkens pflege man nur deshalb hinwegzusehen, weil sie in der Bildung der uns überkommenen Sprache beständig schon vollzogen sei und weil sie demnach zu den selbstverständlichen Voraussetzungen, nicht mehr zu der eigenen Arbeit des Denkens zu gehören scheine. In Wahrheit aber enthalte gerade die Schöpfung der Sprachworte, wenn man von bloßen formlosen Interjektionen und Erregungslauten absehe, die Grundform des Denkens, die Form der Objektivierung in sich. Diese kann hier noch nicht darauf gerichtet sein, Verknüpfungen des Mannigfaltigen herzustellen, die einer allgemeingültigen Regel unterstehen; sondern sie löst vor allem die Voraufgabe, jedem einzelnen Eindruck die Bedeutung eines an sich Gültigen [248] zu geben. Von der Heraussetzung des Inhalts in eine von der Erkenntnis ganz unabhängige Wirklichkeit weiß also diese Art der Objektivierung noch nichts – sondern ihr handelt es sich nur darum, den Inhalt, an dem sie sich vollzieht, für die Erkenntnis zu fixieren und ihn im Wechsel und Wandel der Eindrücke für das Bewußtsein als ein sich selbst Gleiches und Wiederkehrendes zu kennzeichnen. „Durch die logische Objektivierung, die sich in der Schöpfung des Namens verrät, wird daher der benannte Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeit hinausgerückt; die gemeinsame Welt, in welcher andere ihn, auf den wir hinweisen, wiederfinden sollen, ist im allgemeinen nur die Welt des Denkbaren; ihr wird hier die erste Spur eines eigenen Bestehens und einer inneren Gesetzlichkeit zugeschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbe und von ihnen unabhängig ist.“

Und jetzt knüpfen sich an diese erste Fixierung irgendwelcher, durch das Denken und die Sprache erfaßbarer Qualitäten weitere Bestimmungen an, in denen sie miteinander zu gewissen Verhältnissen zusammentreten, in denen sie sich zu Ordnungen und Reihen zusammenfügen. Die einzelne Qualität besitzt nicht nur an sich selbst ein identisches „Was“, einen eigentümlichen Bestand, sondern sie ist kraft desselben auf andere bezogen – und auch diese Beziehung ist nicht willkürlich, sondern weist eine eigentümliche objektive Form auf. Aber auch diese letztere können wir, obwohl wir sie als solche erkennen und anerkennen, dennoch den Einzelinhalten nicht als ein Selbständiges und Ablösbares gegenüberstellen, sondern sie nur an ihnen und in ihnen aufweisen. Fassen wir mehrere Inhalte, nachdem wir sie als solche fixiert und benannt haben, zur Form einer Reihe zusammen, so scheint damit zugleich ein Gemeinsames gesetzt, das sich in den Einzelgliedern der Reihe spezifiziert, das sich in ihnen allen, jedoch in jedem von ihnen mit einem eigentümlichen Unterschied behaftet, darstellt. Dieses erste Allgemeine ist jedoch, wie Lotze betont, von wesentlich anderer Art, als es die gewöhnlichen Gattungsbegriffe der Logik sind. „Den Allgemeinbegriff eines Tieres oder einer geometrischen Figur teilen wir einem anderen dadurch mit, daß wir ihm vorschreiben, eine genau angebbare Reihe von Denkhandlungen der Verknüpfung, Trennung oder Beziehung an einer Anzahl als bekannt vorausgesetzter Einzelvorstellungen auszuführen; am Ende dieser logischen Arbeit werde vor seinem Bewußtsein derselbe Inhalt stehen, den wir ihm mitzuteilen wünschten. Worin dagegen das allgemeine Blau bestehe, das wir im Hellblau und Dunkelblau, oder worin die allgemeine Farbe, die wir in Rot und Gelb mitdachten, läßt sich nicht auf demselben Wege verdeutlichen … [249] Das, worin Rot oder Gelb übereinstimmen, und wodurch sie beide Farben sind, läßt sich von dem nicht abtrennen, wodurch Rot rot und Gelb gelb ist; nicht so abtrennen nämlich, daß dies Gemeinsame den Inhalt einer dritten Vorstellung bildete, welche von gleicher Art und Ordnung mit den beiden verglichenen wäre. Empfunden wird, wie wir wissen, stets nur eine bestimmte Einzelschattierung einer Farbe, nur ein Ton von bestimmter Höhe, Stärke und Eigenart … Wer das Allgemeine der Farbe oder des Tones zu fassen sucht, wird sich stets dabei antreffen, daß er entweder eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Ton wirklich vor seiner Anschauung hat, nur begleitet von dem Nebengedanken, jeder andere Ton und jede andere Farbe habe das gleiche Recht, als anschauliches Beispiel des selbst unanschaulich bleibenden Allgemeinen zu dienen; oder seine Erinnerung wird viele Farben und Töne nacheinander ihm mit demselben Nebengedanken vorführen, daß nicht diese einzelnen selbst gemeint sind, sondern das ihnen Gemeinsame, das in keiner Anschauung für sich zu fassen ist … Worte, wie Farbe und Ton sind in Wahrheit nur kurze Bezeichnungen logischer Aufgaben, die sich in der Form einer geschlossenen Vorstellung nicht lösen lassen. Wir befehlen durch sie unserem Bewußtsein, die einzelnen vorstellbaren Töne und Farben vorzustellen und zu vergleichen, in dieser Vergleichung aber das Gemeinsame zu ergreifen, das nach dem Zeugnis unserer Empfindung in ihnen enthalten ist, das jedoch durch keine Anstrengung des Denkens von dem, wodurch sie verschieden sind, sich wirklich ablösen und zu dem Inhalt einer gleich anschaulichen neuen Vorstellung gestalten läßt[3].“

Wir haben diese Lehre Lotzes vom „ersten Allgemeinen“ hier ausführlich wiedergegeben, weil sie, richtig verstanden und interpretiert, zum Schlüssel für das Verständnis der ursprünglichen Form der Begriffsbildung werden kann, die in der Sprache waltet. Die logische Tradition befindet sich diesem Problem gegenüber, wie gerade die Darlegungen Lotzes deutlich zeigen, in einem eigentümlichen Dilemma. Daß das Streben des Begriffs schlechthin auf Allgemeinheit gerichtet sein und daß seine Leistung zuletzt in der Gewinnung von Allgemeinvorstellungen bestehen müsse, steht ihr fest; aber es erweist sich nun, daß dies an sich überall gleichartige Streben nicht auch überall in der gleichen Weise erfüllbar ist. Eine doppelte Form des Allgemeinen muß demnach unterschieden werden: die eine, in der es gleichsam nur implizit, in der Form einer Beziehung, die die Einzelinhalte aufweisen, gegeben ist; die andere, in der es auch explizit, in der Art einer selbständigen anschaulichen Vorstellung [250] heraustritt. Aber von hier aus bedarf es nun nur noch eines weiteren Schrittes, um das Verhältnis umzukehren: um den Bestand der Beziehung als den eigentlichen Inhalt und das eigentliche logische Fundament des Begriffs, die „Allgemeinvorstellung“ dagegen nur als ein keineswegs immer erforderliches und erreichbares psychologisches Accidens desselben anzusehen. Lotze hat diesen Schritt nicht getan; statt die Forderung der Bestimmung, die der Begriff stellt, scharf und prinzipiell von der Forderung der Allgemeinheit abzutrennen, werden ihm die primären Bestimmtheiten, zu denen der Begriff hinführt, selbst wieder zu primären Allgemeinheiten, so daß es nun für ihn, statt zwei charakteristische Leistungen des Begriffs, vielmehr zwei Formen des Allgemeinen: ein „erstes“ und ein „zweites“ Allgemeine gibt. Aber aus seiner eigenen Darstellung geht hervor, daß diese beiden Arten kaum mehr als den Namen miteinander gemein haben, dagegen in ihrer eigentümlichen logischen Struktur aufs schärfste geschieden sind. Denn das Verhältnis der Subsumtion, das die traditionelle Logik als die konstitutive Beziehung ansieht, durch die das Allgemeine mit dem Besonderen, die Gattung mit den Arten und Individuen zusammenhängt, ist auf die Begriffe, die Lotze als das „erste Allgemeine“ bezeichnet, nicht anwendbar. Das Blau und das Gelb stehen nicht als Besonderungen unter der Gattung der „Farbe überhaupt“, sondern „die“ Farbe ist nirgends anders als in ihnen, sowie in der Gesamtheit der sonstigen möglichen Farbennuancen, enthalten und nur als eben diese reihenmäßig geordnete Gesamtheit selbst denkbar. Damit aber sind wir, von Seiten der allgemeinen Logik selbst, auf eine Unterscheidung hingewiesen, die auch durch die Bildung der sprachlichen Begriffe überall hindurchgeht. Bevor die Sprache zur generalisierenden und subsumierenden Form des Begriffs übergehen kann, bedarf sie einer anderen rein qualifizierenden Art der Begriffsbildung. In ihr erfolgt die Benennung nicht von der Gattung aus, der irgendein Ding angehört, sondern sie knüpft an irgendeine einzelne Beschaffenheit an, die an einem anschaulichen Gesamtinhalt erfaßt wird. Die Arbeit des Geistes besteht nicht darin, daß der Inhalt unter einen anderen gestellt wird, sondern daß er als ein konkretes, aber undifferenziertes Ganze insofern eine weitere Besonderung erfährt, als an ihm ein bestimmtes charakteristisches Moment herausgehoben und in den Blickpunkt der Betrachtung gerückt wird. Auf dieser Konzentration des geistigen Blicks beruht die Möglichkeit der „Benennung“: die neue gedankliche Prägung, die der Inhalt erfährt, ist die notwendige Bedingung für seine sprachliche Bezeichnung.

[251] Die Sprachphilosophie hat für die Gesamtheit dieser Fragen einen charakteristischen Begriff geschaffen, der freilich in seinem Gebrauch so vieldeutig und zwiespältig ist, daß er, statt eine bestimmte Lösung darzubieten, vielmehr zu ihren schwierigsten und meistumstrittenen Problemen zu gehören scheint. Man pflegt seit Humboldt, um das spezifische Gesetz zu bezeichnen, durch das sich jede Sprache in ihrer Begriffsbildung von anderen unterscheidet, von der „inneren Form“ der einzelnen Sprachen zu reden. Humboldt versteht unter diesem Begriff das Beständige und Gleichförmige in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, – sofern es so vollständig als möglich in seinem Zusammenhange aufgefaßt und systematisch dargestellt wird. Aber schon bei ihm selbst ist diese Bestimmung nicht eindeutig: denn bald soll sich die Form in den Gesetzen der sprachlichen Verknüpfung, bald soll sie sich in der Bildung der Grundwörter selbst darstellen und ausdrücken. Sie wird demnach, wie man gelegentlich mit Recht gegen Humboldt eingewandt hat, bald im morphologischen, bald im semasiologischen Sinne genommen; sie betrifft auf der einen Seite das Verhältnis, in dem bestimmte grammatische Grundkategorien, wie z. B. die Kategorien des Nomens und des Verbums, in der Bildung der Sprache zueinander stehen, auf der anderen Seite geht sie auf den Ursprung der Wortbedeutungen selbst zurück[4]. Überblickt man freilich das Ganze von Humboldts Begriffsbestimmungen, so tritt unverkennbar hervor, daß der letztere Gesichtspunkt der überwiegende und entscheidende für ihn ist. Daß jede besondere Sprache eine besondere innere Form hat, bedeutet ihm vor allem, daß sie in der Wahl ihrer Bezeichnungen niemals einfach die an sich wahrgenommenen Gegenstände ausdrückt, sondern daß diese Wahl vornehmlich durch die geistige Gesamthaltung, durch die Richtung der subjektiven Auffassung der Gegenstände bestimmt wird. Denn das Wort ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes[5]. In diesem Sinne können die Wörter verschiedener Sprachen niemals Synonyma sein, kann ihr Sinn, genau und streng genommen, niemals durch eine einfache Definition, die schlechthin die objektiven Kennzeichen des durch sie bezeichneten Gegenstandes aufzählt, mit umschlossen werden. Es ist immer eine eigene Weise der Sinngebung selbst, die sich in den Synthesen und Zuordnungen ausdrückt, auf [252] denen die Bildung der sprachlichen Begriffe beruht. Wenn der Mond im Griechischen als der „Messende“ (μήν), im Lateinischen als der „Leuchtende“ (luna, luc-na) bezeichnet wird, so ist hier ein und dieselbe sinnliche Anschauung unter ganz verschiedene Bedeutungsbegriffe gerückt und durch sie bestimmt. Die Art, in der diese Bestimmung in den einzelnen Sprachen erfolgt, scheint freilich, eben weil es sich hier um einen höchst komplexen, von Fall zu Fall wechselnden geistigen Prozeß handelt, keiner allgemeinen Darstellung mehr fähig zu sein. Hier scheint nur übrig zu bleiben, sich mitten in die unmittelbare Anschauung der Einzelsprachen selbst zu versetzen, und das Verfahren, dem sie folgen, statt es in einer abstrakten Formel zu beschreiben, unmittelbar an und in den besonderen Phänomenen nachzufühlen[6]. Aber wenn die philosophische Analyse niemals den Anspruch erheben darf, die besondere Subjektivität, die sich in den Sprachen ausdrückt, zu erfassen, so bleibt doch gleichsam die allgemeine Subjektivität der Sprache für sie ein Problem. Denn wie die Sprachen sich untereinander durch je einen besonderen „Standpunkt der Weltansicht“ unterscheiden, so gibt es andererseits eine Weltansicht der Sprache selbst, kraft deren sie sich aus dem Ganzen der geistigen Formen heraushebt und in der sie sich mit der Weltansicht der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Kunst, des Mythos teils berührt, teils sich gegen sie abgrenzt.

Von der im engeren Sinne logischen Form der Begriffsbildung unterscheidet sich die sprachliche Begriffsbildung vor allem dadurch, daß in ihr niemals ausschließlich die ruhende Betrachtung und Vergleichung der Inhalte entscheidend ist, sondern daß die bloße Form der „Reflexion“ hier überall mit bestimmten dynamischen Motiven durchsetzt ist, – daß sie ihre wesentlichen Antriebe niemals allein aus der Welt des Seins, sondern immer zugleich aus der des Tuns empfängt. Die Sprachbegriffe stehen noch überall auf der Grenze zwischen Aktion und Reflexion, zwischen Tun und Betrachten. Hier gibt es kein bloßes Klassifizieren und Ordnen der Anschauungen nach bestimmten gegenständlichen Kennzeichen, sondern hier äußert sich, eben in dieser gegenständlichen Erfassung selbst, immer zugleich ein tätiges Interesse an der Welt und ihrer Gestaltung. Herder hat gesagt, daß dem Menschen die Sprache ursprünglich dasselbe gewesen sei, was ihm die Natur war: ein Pantheon, [253] ein Reich belebter handelnder Wesen. Die Spiegelung nicht einer objektiven Umwelt, sondern die des eigenen Lebens und des eigenen Tuns ist es in der Tat, wodurch das Weltbild der Sprache, wie das primitive mythische Bild der Natur, in seinen eigentlichen Grund- und Wesenszügen bestimmt wird. Indem der Wille und das Tun des Menschen sich auf einen Punkt richten, indem das Bewußtsein sich auf ihn spannt und konzentriert, wird er damit für den Prozeß der Bezeichnung gleichsam erst reif. Im Strom des Bewußtseins, der sonst gleichförmig abzulaufen schien, entstehen nunmehr Wellenberge und Wellentäler: es bilden sich einzelne dynamisch-betonte Inhalte, um die sich die übrigen gruppieren. Und damit ist erst der Boden für jene Zuordnungen bereitet, auf denen die Gewinnung irgendwelcher sprachlich-logischer „Merkmale“ und auf denen die Zusammenfassung zu bestimmten Merkmalsgruppen beruht, ist erst die Grundlage gegeben, auf welcher die qualifizierende sprachliche Begriffsbildung sich aufbauen kann.

Schon in dem Übergang von den bloßen sinnlichen Erregungslauten zum Ruf bekundet sich diese allgemeine Richtung der Sprachbildung. Der Ruf kann, z. B. als Angst- oder Schmerzruf, noch ganz dem Kreise der bloßen Interjektion angehören; aber er bedeutet bereits mehr als dies, sobald sich in ihm nicht nur ein eben empfangener sinnlicher Eindruck im unmittelbaren Reflex nach außen wendet, sondern sobald er der Ausdruck einer bestimmten und bewußten Zielrichtung des Willens ist. Denn das Bewußtsein steht alsdann nicht mehr im Zeichen der bloßen Reproduktion, sondern im Zeichen der Antizipation: es verharrt nicht im Gegebenen und Gegenwärtigen, sondern greift auf die Vorstellung eines Künftigen über. Demgemäß begleitet jetzt der Laut nicht nur einen vorhandenen inneren Gefühls- und Erregungszustand, sondern er wirkt selbst als ein Motiv, das in das Geschehen eingreift. Die Veränderungen dieses Geschehens werden nicht lediglich bezeichnet, sondern im eigentlichen Sinne „hervorgerufen“. Indem der Laut in dieser Weise als Organ des Willens wirkt, ist er aus dem Stadium der bloßen „Nachahmung“ ein für allemal herausgetreten. In der Entwicklung des Kindes läßt sich schon in der Epoche, die der eigentlichen Sprachbildung vorangeht, beobachten, wie der Charakter des kindlichen Schreies allmählich mehr und mehr in den des Rufes übergeht. Indem der Schrei sich in sich selbst differenziert, indem besondere, wenngleich noch unartikulierte lautliche Äußerungen für verschiedene Affekte und für verschiedene Richtungen des Verlangens eintreten, wird dadurch der Laut auf bestimmte Inhalte, im Unterschied von anderen, gleichsam hingelenkt und damit die erste [254] Form seiner „Objektivierung“ vorbereitet. Auf wesentlich dem gleichen Wege wäre auch die Menschheit als Ganzes in ihrer Entwicklung zur Sprache fortgeschritten, wenn die von Lazarus Geiger aufgestellte und von Ludwig Noiré weitergeführte Theorie zuträfe, daß alle ursprünglichen Sprachlaute nicht von der objektiven Anschauung des Seins, sondern von der subjektiven des Tuns ihren Ausgang genommen haben. Der Sprachlaut wurde, gemäß dieser Theorie, zur Darstellung der Dingwelt erst in dem Maße fähig und tauglich, als diese selbst sich allmählich aus der Sphäre des Wirkens und Schaffens herausgestaltete. Für Noiré ist es insbesondere die soziale Form des Wirkens, die die soziale Funktion der Sprache als Verständigungsmittel erst ermöglicht hat. Wäre der Sprachlaut nichts anderes als der Ausdruck einer individuellen, im einzelnen Bewußtsein erzeugten Vorstellung, so bliebe er innerhalb der Grenzen dieses Bewußtseins auch gleichsam gefangen und besäße keine über sie hinausreichende Kraft. Von der Vorstellungs- und Lautwelt des einen Subjekts zu der des anderen ließe sich dann niemals eine Brücke schlagen. Aber indem der Laut nicht im isolierten, sondern im gemeinschaftlichen Tun der Menschen entsteht, besitzt er damit von Anfang an einen wahrhaft gemeinschaftlichen, einen „allgemeinen“ Sinn. Die Sprache als sensorium commune konnte nur aus der Sympathie der Tätigkeit hervorgehen. „Es war die auf einen gemeinsamen Zweck gerichtete gemeinsame Tätigkeit, es war die urälteste Arbeit unserer Stammeltern, aus welcher Sprache und Vernunftleben hervorquoll … Der Sprachlaut ist in seiner Entstehung der die gemeinsame Tätigkeit begleitende Ausdruck des erhöhten Gemeingefühls … Für alles übrige, für Sonne, Mond, Baum und Tier, Mensch und Kind, Schmerz und Lust, Speise und Trank, fehlte absolut jede Möglichkeit gemeinsamer Auffassung, also auch gemeinsamer Bezeichnung; nur jenes Eine, die gemeinsame, nicht aber die individuelle Tätigkeit war der feste unwandelbare Boden, aus welchem das Gemeinverständnis hervorgehen konnte … Alle Dinge treten in den menschlichen Gesichtskreis, d. h. sie werden erst zu Dingen, in dem Maße, als sie menschliche Tätigkeit erleiden und darnach erhalten sie ihre Bezeichnungen, ihre Namen[7].“

Der empirische Beweis, auf den Noiré diese seine spekulative These zu stützen versuchte, darf freilich als endgültig gescheitert gelten: was [255] er über die anfängliche Form der Sprachwurzeln und der menschlichen Urworte vorbringt, bleibt ebenso hypothetisch und zweifelhaft, wie es die gesamte Annahme einer ursprünglichen „Wurzelperiode“ der Sprache ist. Aber auch wenn man nicht die Hoffnung hegt, von diesem Punkte aus in das letzte metaphysische Geheimnis des Sprachursprungs hineinblicken zu können, so zeigt doch schon die Betrachtung der empirischen Form der Sprachen, wie tief sie im Gebiet des Wirkens und Tuns, als ihrem eigentlichen Nähr- und Mutterboden, verwurzelt sind. Insbesondere in den Sprachen von Naturvölkern tritt dieser Zusammenhang überall deutlich hervor[8] – und die Kultursprachen zeigen ihn um so klarer, je mehr man, über den Kreis ihrer allgemeinen Begriffsworte hinaus, auf die Entwicklung hinblickt, die sie als besondere „Berufssprachen“ in verschiedenen Gebieten menschlicher Tätigkeit erfahren. Usener hat darauf hingewiesen, daß sich in der eigentümlichen Struktur dieser Berufssprachen ein gemeinsames Moment ausprägt, das ebensowohl für die Richtung der sprachlichen, wie für die Richtung der mythisch-religiösen Begriffsbildung kennzeichnend sei. Der Kreis der mythischen „Sondergötter“, wie der Kreis der individuellen und partikularen „Sondernamen“ werde erst allmählich überschritten, indem der Mensch von besonderen Tätigkeiten zu allgemeineren fortschreite und zugleich mit dieser wachsenden Allgemeinheit seines Tuns auch ein immer allgemeineres Bewußtsein desselben gewinne: – aus der Erweiterung des Tuns stamme erst die Erhebung zu wahrhaft universellen sprachlichen und religiösen Begriffen[9].

Der Inhalt dieser Begriffe und das Prinzip, das ihren Aufbau bestimmt, wird daher erst ganz durchsichtig, wenn man neben und hinter ihrem abstrakt logischen Sinn ihren teleologischen Sinn erfaßt. Die Wörter der Sprache sind nicht sowohl die Wiedergabe feststehender Bestimmtheiten der Natur und der Vorstellungswelt, als sie vielmehr Richtungen und Richtlinien des Bestimmens selbst bezeichnen. Hier steht das Bewußtsein der Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke nicht passiv gegenüber, sondern es durchdringt sie und erfüllt sie mit seinem eigenen inneren Leben. Nur was die innere Aktivität in irgendeiner Weise berührt, was für sie „bedeutsam“ erscheint, empfängt auch sprachlich den Stempel der Bedeutung. Wenn man daher von den Begriffen überhaupt gesagt hat, daß das Prinzip ihrer Bildung statt als ein Prinzip der „Abstraktion“ [256] vielmehr als ein Prinzip der Selektion zu bezeichnen sei, – so gilt dies vor allem für die Form der sprachlichen Begriffsbildung. Hier werden nicht irgendwelche vorhandene, in der Empfindung oder Vorstellung gegebene Unterschiede des Bewußtseins einfach fixiert und mit einem bestimmten Lautzeichen, gleichsam als Marke, versehen, sondern es werden die Grenzlinien innerhalb des Ganzen des Bewußtseins erst selbst gezogen. Kraft der Determination, die das Tun in sich selbst erfährt, entstehen die Determinanten und die Dominanten des sprachlichen Ausdrucks. Das Licht dringt nicht einfach von den Gegenständen her in die Sphäre des Geistes ein, sondern es breitet sich, vom Zentrum des Tuns selbst, fortschreitend aus[10], und macht dadurch erst die Welt der unmittelbar-sinnlichen Empfindung zur von innen her erhellten, zur anschaulich und sprachlich gestalteten Welt. In diesem Prozeß erweist sich die Sprachbildung dem mythischen Denken und Vorstellen verwandt und bewahrt doch andererseits ihnen gegenüber eine selbständige Richtung, eine ihr eigentümliche geistige Tendenz. Wie der Mythos, so geht auch die Sprache von der Grunderfahrung und der Grundform des persönlichen Wirkens aus; aber sie schlingt nun die Welt nicht, wie dieser, wieder unendlich vielfältig in diesen einen Mittelpunkt zurück, sondern gibt ihr eine neue Form, in welcher sie der bloßen Subjektivität des Empfindens und Fühlens gegenübertritt. So gehen in ihr der Prozeß der Belebung und der Prozeß der Bestimmung stetig ineinander über und wachsen zu einer geistigen Einheit zusammen[11]. [257] In dieser Doppelrichtung vom Inneren zum Äußeren hin und von diesem wieder zu jenem zurück, in diesem Fluten und Rückfluten des Geistes stellt sich für ihn erst die Gestalt sowie die Begrenzung der inneren und äußeren Wirklichkeit her.

Mit alledem ist freilich zunächst nur ein abstraktes Schema der sprachlichen Begriffsbildung aufgestellt, ist gleichsam nur der Rahmen für sie bezeichnet, ohne daß bisher die Einzelzüge des Bildes selbst herausgetreten sind. Um zu einer genaueren Erfassung dieser Einzelzüge vorzudringen, muß man die Art verfolgen, in der die Sprache allmählich von einer rein „qualifizierenden“ Auffassung zur „generalisierenden“, in der sie vom Sinnlich-Konkreten zum Generisch-Allgemeinen fortschreitet. Vergleicht man die sprachliche Gestaltung der Begriffe in unseren entwickelten Kultursprachen mit derjenigen in den Sprachen der Naturvölker, so tritt der Gegensatz der Grundanschauung alsbald klar hervor. Die letzteren sind überall dadurch ausgezeichnet, daß sie jedes Ding, jeden Vorgang, jede Tätigkeit, die sie bezeichnen, in höchster anschaulicher Bestimmtheit hinstellen, daß sie alle differenzierenden Eigenschaften des Dinges, alle konkreten Besonderungen des Vorganges, alle Modifikationen und Nuancierungen des Tuns aufs deutlichste zum Ausdruck zu bringen streben. In dieser Hinsicht besitzen sie eine Ausdrucksfülle, die von unseren Kultursprachen niemals auch nur annähernd erreicht wird. Insbesondere sind es die räumlichen Bestimmungen und Verhältnisse, die hier, wie sich bereits gezeigt hat, ihre sorgsamste Ausprägung finden[12]. Aber neben die räumliche Besonderung der Verbalausdrücke tritt weiterhin ihre Besonderung nach den verschiedenartigsten anderen Gesichtspunkten. Jeder modifizierende Umstand einer Handlung, mag er ihr Subjekt oder ihr Objekt, mag er ihr Ziel oder das Werkzeug, mit dem sie ausgeführt wird, betreffen, wirkt unmittelbar auf die Wahl des Ausdrucks ein. In einigen nordamerikanischen Sprachen wird die Tätigkeit des Waschens durch dreizehn verschiedene Verba bezeichnet, je nachdem es sich um das Waschen der Hände oder des Gesichts, um das Waschen [258] von Schüsseln, von Kleidern, von Fleisch u. s. f. handelt[13]. Ein Äquivalent für unseren allgemeinen Ausdruck des „Essens“ findet sich – nach den Angaben Trumbulls – in keiner amerikanischen Eingeborenensprache; dagegen gibt es eine Fülle verschiedener Verba, deren eines z. B. bei animalischer, deren anderes bei vegetabilischer Nahrung gebraucht wird, deren eines das Mahl eines Einzelnen, deren anderes ein gemeinsames Mahl ausdrückt u. s. w. Bei dem Verbum des Schlagens kommt es darauf an, ob es sich um einen Schlag mit der Faust oder mit der flachen Hand, mit einer Rute oder mit einer Peitsche handelt; bei dem Verbum des Brechens werden je nach der Art des Zerbrechens und nach dem Instrument, mit dem es erfolgt, verschiedene Bezeichnungen angewandt[14]. Und die gleiche, fast schrankenlose Differenzierung gilt, wie für die Tätigkeitsbegriffe, auch für die Dingbegriffe. Auch hier ist das Bestreben der Sprache, ehe sie zur Schaffung bestimmter Klassenbezeichnungen und „Gattungsbegriffe“ gelangt, vor allem auf die Bezeichnung der „Varietäten“ gerichtet. Die Ureinwohner von Tasmanien hatten kein Wort, um den Begriff des Baumes auszudrücken, dagegen je einen besonderen Namen für jede einzelne Spielart der Akazie, des blauen Gummibaumes u. s. f.[15]. Von den Bakairi berichtet K. v. d. Steinen, daß jede Papageien- und jede Palmenart von ihnen aufs genaueste unterschieden und benannt werde, während die Artbegriffe des Papageien und der Palme als solche kein sprachliches Äquivalent besitzen[16]. Die gleiche Erscheinung findet sich auch in übrigens hoch entwickelten Sprachen wieder. Das Arabische z. B. hat für einzelne Tier- oder Pflanzenvarietäten eine so erstaunliche Fülle von Bezeichnungen entwickelt, daß man es als Beleg dafür anführen konnte, wie durch die bloße Philologie und Wörterkunde das Studium der Naturgeschichte und der Physiologie unmittelbar gefördert werden könne. Hammer hat in einer eigenen Abhandlung nicht weniger als 5744 Namen für das Kamel im Arabischen zusammengestellt, die je nach dem Geschlecht, nach dem Alter oder nach irgendwelchen individuellen Kennzeichen des Tieres variieren. Es gibt besondere Bezeichnungen nicht nur für das männliche und weibliche Kamel, für das junge Kamelfohlen und das erwachsene Kamel, sondern auch [259] innerhalb dieser Klassen bestehen die feinsten Abstufungen. Das Fohlen, das noch keine Seitenzähne hat, das Fohlen, welches zu gehen anfängt, weiterhin das Kamel vom ersten bis zum zehnten Jahre tragen je einen eigenen Namen. Andere Unterschiede werden von der Begattung, der Schwangerschaft, der Geburt, wieder andere von besonderen körperlichen Eigentümlichkeiten hergenommen: ein eigener Name dient etwa dazu, ein Kamel mit großen oder kleinen Ohren, mit geschnittenem Ohr oder mit herunterhängenden Ohrlappen, mit großer Kinnlade oder mit starkem herabhängenden Kinn u. s. f. zu bezeichnen[17]. –

In alledem handelt es sich offenbar nicht um das zufällige üppige Wuchern eines einzelnen Sprachtriebes, sondern es prägt sich darin eine ursprüngliche Form und eine Grundtendenz der sprachlichen Begriffsbildung aus, die, auch nachdem die Sprache im allgemeinen über sie hinweggeschritten ist, in einzelnen charakteristischen Nachwirkungen häufig noch deutlich erkennbar ist. Als solche Nachwirkungen hat man insbesondere diejenigen Phänomene der Sprachgeschichte gedeutet, die man seit Herm. Osthoff als Suppletiverscheinungen zu bezeichnen pflegt. Es ist, insbesondere im Flexions- und Wortbildungssystem der indogermanischen Sprachen, eine bekannte Erscheinung, daß bestimmte Wörter und Wortformen, die sich miteinander zu einem Flexionssystem verbinden, wie z. B. die einzelnen Kasus eines Substantivs, die verschiedenen Zeitformen eines Verbs und die Steigerungsformen eines Adjektivs, nicht von ein und demselben sprachlichen Stamm, sondern von zwei oder mehreren solcher Stämme gebildet werden. Neben der „regelrechten“ Bildung der Verbalflexion und der adjektivischen Steigerung stehen Fälle, wie wir sie in fero, tuli, latum, φέρω, οἴσω, ἤνεγκον vor uns haben, die auf den ersten Blick als bloße „Ausnahmen“, als willkürliche Durchbrechungen des Prinzips erscheinen, das formal und bedeutungsmäßig Verknüpfte auch durch wurzelverwandte Worte zu bezeichnen. Das Gesetz, das diese Ausnahmen beherrscht, hat Osthoff dadurch aufzuzeigen vermocht, daß er sie im allgemeinen einer älteren Schicht der Sprachbildung zuweist, in der die „individualisierende“ Auffassung vor der „gruppierenden“ noch das Übergewicht besessen habe. Dieses Übergewicht mußte sich nach ihm um so länger behaupten, je näher die einzelnen in der Sprache festgehaltenen Begriffs- und Bedeutungskreise dem natürlichen Vorstellungskreise des Menschen und seiner unmittelbaren Tätigkeits- und Interessensphäre lagen. „Wie [260] der Mensch mit seinem leiblichen Auge allemal das räumlich Zunächstliegende in schärferer Besonderung erschaut, so werden auch mit dem seelischen Auge, dessen Spiegel die Sprache ist, die Dinge der Vorstellungswelt desto schärfer und individueller erfaßt, je näher sie dem Empfinden und Denken des Sprechenden treten, je intensiver und lebhafter sie infolgedessen das Gemüt zu ergreifen, das psychische Interesse des Einzelnen, d. i. des Menschen- und des Völkerindividuums zu erregen pflegen.“ Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es in der Tat bedeutsam, daß eben jene Begriffskreise, für die die Sprachen der Naturvölker die größte Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Benennung zeigen, auch diejenigen sind, bei denen, innerhalb der indogermanischen Sprachen, die Suppletiverscheinungen am reichhaltigsten entwickelt sind und bei denen sie sich am längsten behaupten. Von den Tätigkeitsworten sind es insbesondere die Verba der Bewegung: das „Gehen“ und „Kommen“, das „Laufen“ und „Rennen“, dann die Verba des Essens, des Schlagens, des Sehens, des Sprechens u. s. f., an denen die vielfältigste Besonderung sich findet. Daß in der indogermanischen Grundsprache z. B. die Varietäten des „Gehens“ früher unterschieden waren, als dessen allgemein sprachlicher Begriff gefunden war, hat G. Curtius im einzelnen erwiesen – und er hat weiterhin dargelegt, daß die Vorstellungen des Schauens und Spähens, des Blickens, Achtens und Wahrens im Indogermanischen früher geschieden gewesen sein müssen, als die Bezeichnungen der verschiedenen Sinnestätigkeiten als solcher, des Sehens, Hörens und Fühlens, sich herausbildeten. Und erst der spätesten Entwicklung gehören Verba an, die wie das nachhomerische αἰσθάνεσθαι, sentire, empfinden die sinnliche Wahrnehmung überhaupt bezeichnen[18]. Erwägt man, daß den Erscheinungen des Suppletivwesens im Indogermanischen ganz analoge Bildungen in anderen Sprachkreisen, z. B. in den semitischen Sprachen entsprechen, so ergibt sich, daß hier die Form der Wortbildung in der Tat eine allgemeine Richtung der sprachlichen Begriffsbildung widerspiegelt. Von einer ursprünglichen „individualisierenden“ Tendenz der Sprache wird man freilich in strengem Sinne kaum reden können: denn jede noch so konkret gefaßte Benennung einer einzelnen Anschauung geht über ihre rein individuelle Erfassung bereits hinaus und ist ihr in gewissem Sinne entgegengerichtet. Aber es ist allerdings eine Allgemeinheit verschiedener Dimensionen, die sich in den Sprachbegriffen ausdrücken kann. Stellt man sich die Gesamtheit der Anschauungswelt als eine gleichförmige [261] Ebene vor, aus der durch den Akt der Benennung fort und fort bestimmte Einzelgestalten herausgehoben und gegen ihre Umgebung abgesondert werden, so betrifft dieser Prozeß der Bestimmung zunächst immer nur einen einzelnen, eng begrenzten Teil dieser Ebene. Nichtsdestoweniger kann auf diesem Wege, indem sich alle diese Einzelkreise aneinanderlegen, allmählich das Ganze der Ebene fortschreitend ergriffen und mit einem immer dichter werdenden Netzwerk von Benennungen gleichsam übersponnen werden. So fein jedoch die einzelnen Maschen dieses Netzes auch sein mögen, so ist es doch in sich selbst einstweilen nur locker gefügt. Denn noch hat jedes Wort nur seinen eigenen, relativ beschränkten Aktionsradius, jenseits dessen seine Kraft erlischt. Es fehlt an der Möglichkeit, eine Mehrheit und Verschiedenheit von Bedeutungskreisen selbst wieder zu einem neuen, durch eine einheitliche Form bezeichneten sprachlichen Ganzen zusammenzufassen. Die Kraft der Gestaltung und Absonderung, die in jedem einzelnen Wort beschlossen ist, setzt ein, aber sie gelangt frühzeitig an ihr Ende, und nun muß in einem neuen und selbständigen Ansatz ein neuer Umkreis der Anschauung erschlossen werden. Durch die Summierung all dieser verschiedenen Einzelimpulse, deren jeder sich für sich allein und unabhängig auswirkt, kommt es allenfalls zu kollektiven, nicht aber zu wahrhaft generischen Einheiten. Die Totalität des sprachlichen Ausdrucks bildet hier, sofern sie erreicht wird, selbst nur ein Aggregat, nicht aber ein in sich gegliedertes System; die Kraft der Gliederung hat sich in der einzelnen Benennung erschöpft und reicht zur Bildung übergreifender Einheiten nicht aus.

Ein weiterer Schritt auf dem Wege zur generischen Allgemeinheit ist dagegen getan, wenn die Sprache, statt sich damit zu begnügen, für bestimmte Anschauungskreise bestimmte Benennungen zu schaffen, nun dazu übergeht, diese letzteren selbst derart zu verknüpfen, daß die sachliche Zusammengehörigkeit von Inhalten sich auch in der Sprachform klar ausprägt. Dieses Bestreben, Laut und Bedeutung dadurch in ein strengeres Verhältnis zueinander zu setzen, daß bestimmten begrifflichen Bedeutungsreihen bestimmte Lautreihen als ihre Entsprechung zugeordnet werden, kennzeichnet den Fortgang von der rein qualifizierenden zur klassifizierenden sprachlichen Begriffsbildung. Sie ist in der einfachsten Form dort gegeben, wo Gruppen verschiedener Worte dadurch als eine Einheit gekennzeichnet sind, daß sie durch ein gemeinsames Suffix oder Präfix eine übereinstimmende sprachliche Markierung erhalten. Die besondere Bedeutung, die jedem Wort als solchem zukommt, wird jetzt dadurch ergänzt, daß zu ihm ein allgemeines Determinationselement [262] hinzutritt, welches seine Beziehung zu anderen sprachlichen Gebilden kenntlich macht. Eine derartige, durch ein bestimmtes klassifikatorisches Suffix zusammengehaltene Gruppe liegt z. B. in den indogermanischen Verwandtschaftsnamen: in den Namen für Vater und Mutter, Bruder, Schwester und Tochter vor. Die gemeinsame Endung -tar (ter), die in ihnen auftritt (pitár, mātár, bhrā́tar, svásar, duhitár πατὴρ, μήτηρ, φράτωρ, θυγάτηρ u. s. f.), verbindet diese Namen zu einer in sich geschlossenen Reihe und stempelt sie damit zu Ausprägungen ein und desselben „Begriffs“ – der jedoch nicht als eine selbständige und ablösbare Einheit außerhalb der Reihe selbst besteht, sondern dessen Bedeutung eben in dieser Funktion der Zusammenfassung der Einzelglieder der Reihe aufgeht. Aber es wäre irrig, wenn man aus diesem Grunde die Leistung, die die Sprache hier vollzogen hat, nicht als eine gedankliche, als eine, im strengen Sinne logische Leistung gelten lassen wollte. Denn die logische Theorie des Begriffs weist deutlich darauf hin, daß der „Reihenbegriff“ dem „Gattungsbegriff“ an Kraft und Bedeutsamkeit nicht nachsteht, ja daß er ein wesentliches Moment und einen integrierenden Bestand des Gattungsbegriffs selbst ausmacht[19]. Hält man sich dies gegenwärtig, so tritt das Prinzip, das in diesen Bildungen der Sprache waltet, alsbald in seiner ganzen Bedeutung und Fruchtbarkeit hervor. Man wird dem geistigen Gehalt dieses Prinzips nicht völlig gerecht, wenn man diese Bildungen damit erklärt zu haben glaubt, daß man sie auf das psychologische Gesetz der bloßen Ähnlichkeitsassoziation zurückleitet. Der zufällige Verlauf der Assoziationen, der von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum verschieden ist, genügt so wenig, den Grund und Ursprung der sprachlichen, wie den der rein logischen, der Erkenntnisbegriffe, verständlich zu machen. „Die psychologisch einzig mögliche Weise, sich den Vorgang der Bildung der indogermanischen Verwandtschaftsnamen zu denken,“ – so bemerkt Wundt – „besteht darin, daß von der Bildung eines Verwandtschaftsnamens zu der eines anderen eine Assoziation der beiden Vorstellungen und der sie begleitenden Gefühle herüberreichte, welche eine Angleichung derjenigen Lautelemente des Wortes bewirkte, die nicht dem Ausdruck des besonderen Inhaltes der Vorstellung dienten. Auf dem Wege der successiven assoziativen Angleichung also, nicht auf dem der simultanen Bildung übereinstimmender Begriffszeichen kann allein ein solches einer Klasse von Vorstellungen gemeinsames determinierendes Lautzeichen entstanden sein, und der Begriff der Zusammengehörigkeit [263] der Objekte ist darum auch nicht der Bildung dieser determinativen Elemente vorausgegangen, sondern er hat sich vollkommen gleichzeitig mit ihnen entwickelt. Denn er ist offenbar der beim Übergang von einem Gegenstande zum anderen unmittelbar sich einstellende Ausdruck der Zusammengehörigkeit, wobei diese letztere vielmehr auf gewissen begleitenden Gefühlen von übereinstimmender Färbung als auf einer eigentlichen Vergleichung beruhte[20].“ Dagegen ist jedoch zu sagen, daß, welches auch immer das ursprüngliche psychologische Motiv zur Zusammenfassung einer bestimmten Gruppe von Namen gewesen sein mag, die Zusammenfassung selbst einen selbständigen logischen Akt mit einer ihm eigentümlichen logischen Form darstellt. Eine Determination, die ausschließlich in der Sphäre des Gefühls verbliebe, vermöchte für sich allein keine neue objektive Bestimmung zu schaffen. Denn irgendwelche gefühlsmäßige Assoziationen können schließlich zwischen allen, auch den heterogensten Inhalten des Bewußtseins bestehen, so daß sich von hier aus kein Weg zu jener Art der „Homogeneität“ finden läßt, die im logischen und sprachlichen Begriff hergestellt oder zum mindesten gefordert wird. Das Gefühl kann noch alles mit allem verbinden; es enthält daher keine ausreichende Erklärung dafür, daß bestimmte Inhalte sich zu bestimmten Einheiten verknüpfen. Hierzu wird vielmehr ein gedanklicher Gesichtspunkt der Vergleichung gefordert, der in den Reihenbildungen der Sprache auch dort deutlich erkennbar ist, wo er nur in der Form eines klassifikatorischen Suffixes, nicht in der eines selbständigen Begriffs- und Stoffwortes seinen Ausdruck findet[21]. Wenn die Sprache den Umstand, daß bestimmte Inhalte generisch zusammengehören, zur Darstellung bringt, so dient sie schon damit als ein Vehikel des intellektuellen Fortschritts, – gleichviel, ob es ihr zu erfassen und zu bezeichnen gelingt, worin dieser Zusammenhang besteht. Auch hierin bewährt sie sich als Vorwegnahme einer Aufgabe, die ihre eigentliche Lösung freilich erst in der wissenschaftlichen Erkenntnis finden kann: sie wird gleichsam zur Präsumtion des logischen Begriffs. Dieser letztere begnügt sich nicht damit, eine Zuordnung und eine Zusammengehörigkeit von Inhalten einfach zu behaupten, sondern er fragt nach dem „Warum“ dieser Zuordnung: er will ihr Gesetz und ihren „Grund“ erfassen. Die [264] Analyse der Begriffszusammenhänge führt hier zuletzt auf ihre „genetische Definition“ zurück: auf die Angabe eines Prinzips, aus dem sie entspringen und aus welchem sie, als dessen Besonderungen, abgeleitet werden können. Zu dieser Betrachtung vermag sich die Sprache so wenig in ihren qualifizierenden und „klassifizierenden“, wie in ihren im engeren Sinne „generischen“ Begriffen zu erheben. Aber sie bereitet ihr überall den Boden, indem sie das erste Schema der Zuordnung überhaupt schafft. Dieses Schema mag noch so wenig von der objektiven Zusammengehörigkeit der Inhalte selbst enthalten, so fixiert sich in ihm doch gleichsam die subjektive Seite des Begriffs, so stellt sich in ihm das dar, was er als Frage bedeutet. In der Tat hat auch geschichtlich die Entdeckung des Problems des Begriffs darin bestanden, daß man die sprachlichen Ausdrücke der Begriffe, statt sie als endgültig hinzunehmen, vielmehr als logische Fragen würdigen und verstehen lernte. Der Sokratische Ausdruck des Begriffs: das τί ἔστι hat hier seinen Ursprung: die Induktion, kraft welcher Sokrates zum Begriff „hinführt“, besteht darin, daß von der vorläufigen und präsumtiven Einheit der Wortform ausgegangen wird, um aus ihr die bestimmte und definitive Gestalt der logischen Begriffe zu gewinnen[22]. In diesem Sinne schließen auch die Zuordnungen und Klassifikationen der Sprache eben in der Subjektivität, die ihnen unvermeidlich anhaftet, zugleich eine gewisse Idealität, eine Richtung auf die objektive Einheit der „Idee“ in sich.

II. Grundrichtungen der sprachlichen Klassenbildung

Die Aufgabe, die verschiedenen Formen der Begriffs- und Klassenbildung, die in den Einzelsprachen wirksam sind, zu beschreiben, und sie in ihren letzten geistigen Motiven zu verstehen, liegt jenseits des Gebiets und der methodischen Möglichkeiten der Sprachphilosophie. Sie kann, soweit sie überhaupt lösbar ist, nur von der allgemeinen Linguistik und von den besonderen Sprachwissenschaften in Angriff genommen werden. Die Wege, die die Sprache hier einschlägt, sind so vielfältig verschlungen und so dunkel, daß es nur durch die genaueste Versenkung und durch die feinste Einfühlung in das Detail der Einzelsprachen gelingen kann, sie allmählich zu erhellen. Denn gerade die Art der Klassenbildung macht ein wesentliches Moment jener „inneren Form“ aus, durch welche sich die Sprachen spezifisch voneinander unterscheiden. Aber so wenig die reiche und vielseitige geistige Formung, die die Sprache hier vollzieht, [265] sich ein für allemal in ein fertiges abstraktes Schema einfangen und durch dasselbe bezeichnen läßt – so heben sich doch auch hier in der Vergleichung der besonderen Phänomene gewisse allgemeine Gesichtspunkte heraus, nach denen die Sprache in ihren Klassifikationen und Zuordnungen verfährt. Man kann versuchen, diese Gesichtspunkte derart zu ordnen, daß man dabei jenen ständigen Fortgang vom „Konkreten“ zum „Abstrakten“, der die Richtung der Sprachentwicklung überhaupt bestimmt, als leitendes Prinzip benutzt: wobei man sich freilich gegenwärtig halten muß, daß es sich hier nicht um eine zeitliche, sondern um eine methodische Schichtung handelt und daß demnach in einer gegebenen historischen Gestalt der Sprache die Schichten, die wir hier gedanklich zu sondern versuchen, neben- und miteinander bestehen und sich in der mannigfachsten Weise übereinander lagern können.

Auf der untersten Stufe der geistigen Skala scheinen wir uns dort zu befinden, wo die Vergleichung und Zuordnung der Objekte lediglich von irgendeiner Ähnlichkeit des sinnlichen Eindrucks, den sie hervorrufen, ausgeht. Die Sprachen der Naturvölker bieten mannigfache Beispiele für dies Verfahren einer Zusammenfassung, die ganz von sinnlichen Motiven beherrscht ist. Das inhaltlich Verschiedenartigste kann hier zu einer „Klasse“ zusammengefaßt werden, sobald es nur irgendeine Analogie der sinnlich-wahrnehmbaren Form aufweist. In den melanesischen Sprachen, sowie in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen besteht die Tendenz, besondere Präfixe für diejenigen Gegenstände zu gebrauchen, die durch ihre längliche oder runde Form gekennzeichnet sind. Durch diese Tendenz werden z. B. die Ausdrücke für Sonne und Mond mit denen für das menschliche Ohr, für Fische von bestimmter Form, für Kanus u. s. f. zu ein und derselben sprachlichen Gruppe zusammengeschlossen, während auf der anderen Seite etwa die Namen für Nase und Zunge, als Bezeichnungen länglicher Gegenstände, stehen[23]. Schon einer ganz anderen Schicht der Betrachtung scheinen solche Klassenunterscheidungen anzugehören, die, statt von einer bloßen Ähnlichkeit im Inhalt der einzelnen Wahrnehmungsdinge auszugehen, auf irgendeiner Verhältnisbestimmung gegründet sind, die also die Objekte je nach ihrer Größe, ihrer Zahl, ihrer Stellung und Lage voneinander unterscheiden. In ersterer Hinsicht verwenden z. B. die [266] Bantu-Sprachen ein besonderes Präfix, um damit besonders große Dinge zu bezeichnen, während andere Präfixe als Verkleinerungspräfixe dienen; auch werden hier Gegenstände, die regelmäßig als Elemente einer kollektiven Vielheit, als „einer von vielen“ vorkommen, von solchen geschieden, die, gleich den Augen, den Ohren, den Händen des Menschen in paarweiser Gliederung als „doppelt vorhandene Dinge“ auftreten[24]. Was die Stellung und Lage betrifft, so ist es z. B. in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen für die Klassenzugehörigkeit eines Wortes bestimmend, ob der Gegenstand, den es bezeichnet, als stehend, als sitzend oder liegend gedacht wird[25]. Wenn hier eine Gliederung der Objekte nach direkten, anschaulich-faßbaren Merkmalen stattfindet, so begegnet daneben auch eine Klassifikation, die ein merkwürdiges mittelbares Prinzip der Einteilung benutzt, indem sie die Gesamtheit der Dinge den Gliedern des menschlichen Leibes zuordnet und sie kraft der Zugehörigkeit zum einen oder anderen Glied zu verschiedenen sprachlichen Gruppen zusammenfaßt. Man erkennt hierin das gleiche Motiv, das uns bereits im Aufbau der Raumanschauung durch die Sprache und in der Bildung gewisser primärer Raumworte entgegengetreten ist: der menschliche Körper und die Unterscheidung seiner einzelnen Gliedmaßen dient als eine der ersten und notwendigen Grundlagen der sprachlichen „Orientierung“ überhaupt[26]. So wird in manchen Sprachen die Einteilung der Körperteile geradezu als das durchgehende Schema benutzt, nach dem sich die Auffassung des Weltganzen und seiner Gliederung richtet, insofern hier jedes einzelne Ding, das die Sprache benennt, zunächst mit irgendeinem Körperteil, etwa mit dem Mund, mit den Beinen, mit dem Kopf, dem Herzen, der Brust u. s. f. verknüpft wird und gemäß dieser Grundbeziehung die Einzelobjekte in bestimmte Klassen, in feste „Genera“ abgeteilt werden[27]. In [267] solchen Einteilungen wird sehr deutlich, daß die ersten Begriffsunterscheidungen der Sprache noch durchweg an materielle Substrate gebunden sind; daß die Beziehung zwischen den Gliedern derselben Klasse, wenn sie gedacht werden soll, sich immer zugleich auch in irgendeiner Weise bildmäßig verkörpern muß. In den am reichsten entwickelten und am feinsten durchgebildeten Klassensystemen, wie sie uns in den Bantusprachen begegnen, scheint dann freilich eine Gesamtanschauung gewonnen, die über diesen ersten Kreis bloß sinnlicher Unterscheidungen entschieden hinausreicht. Hier bewährt die Sprache bereits die Kraft, das Ganze des Seins, sofern es als räumliches Ganze genommen wird, als einen Komplex von Beziehungen zu erfassen und es aus ihnen gewissermaßen herauswachsen zu lassen. Wenn in dem genau abgestuften Inbegriff von „Lokativpräfixen“, dessen sich die Bantusprachen bedienen, einerseits die verschiedene Entfernung der Objekte vom Redenden, dann aber auch ihre mannigfachen räumlichen Verhältnisse, ihr „Ineinander“, ihr „Aneinander“ und ihr „Außereinander“ scharf bezeichnet werden, – so beginnt hier die unmittelbare Form der räumlichen Anschauung gleichsam eine systematische Gestalt anzunehmen. Es ist, als würde der Raum hier, als eine mehrfach bestimmte Mannigfaltigkeit, von der Sprache förmlich aufgebaut, als werde er aus den einzelnen Orts- und Richtungsunterscheidungen zu einer in sich geschlossenen und doch zugleich in sich differenzierten Einheit gestaltet[28]. In solchen Klasseneinteilungen scheint sich daher bereits ein Trieb und eine Kraft zur Organisation zu bewähren, die auch dort, wo der Gegenstand selbst noch ganz im Kreis des anschaulichen Seins verharrt, doch ihrem Prinzip nach über diesen bereits hinausdrängt und auf neue und eigentümliche Formen der „Synthesis des Mannigfaltigen“ hinweist, über die die Sprache verfügt.

Hierbei liegt es freilich im Wesen der Sprache selbst begründet, daß [268] jede derartige Synthese nicht ausschließlich durch theoretische, sondern durch imaginative Gesichtspunkte beherrscht wird und daß daher auch die sprachliche „Begriffsbildung“ auf weite Strecken hin nicht sowohl als eine Leistung der logischen Vergleichung und Verknüpfung der Wahrnehmungsinhalte, als vielmehr als eine Leistung der Sprachphantasie erscheint. Die Form der Reihenbildung wird niemals lediglich durch die objektive „Ähnlichkeit“ der Einzelinhalte bestimmt, sondern sie folgt dem Zuge der subjektiven Einbildungskraft. Die Motive, durch welche die Sprache in ihren Klassenbildungen geleitet wird, scheinen daher durchweg, soweit uns überhaupt ein Einblick in sie verstattet ist, den primitiven mythischen Begriffsformen und Klasseneinteilungen noch nahe verwandt zu sein[29]. Auch hier bewährt sich, daß die Sprache als geistige Gesamtform auf der Grenze zwischen Mythos und Logos steht, und daß sie andererseits die Mitte und Vermittlung zwischen der theoretischen und der ästhetischen Weltbetrachtung darstellt. Daß auch die uns nächstliegende und geläufigste Form der sprachlichen Klassenbildung, daß auch die Scheidung der Nomina in die drei „Geschlechter“ des Maskulinum, Femininum und Neutrum von solchen halb mythischen, halb ästhetischen Motiven durchsetzt ist, tritt in den Einzelanwendungen, die dieses Prinzip erfährt, oft noch unverkennbar hervor. Gerade solche Sprachforscher, die mit der Kraft und Schärfe der grammatisch-logischen Analyse die größte Tiefe und Feinheit der künstlerischen Intuition vereinten, haben daher geglaubt, hier das Prinzip der sprachlichen Begriffsbildung an seiner eigentlichen Quelle zu erfassen und es gleichsam unmittelbar belauschen zu können. Jakob Grimm leitet den Geschlechtsunterschied der indogermanischen Sprachen aus einer Übertragung des natürlichen Geschlechts ab, die sich schon im frühesten Zustand der Sprache vollzogen habe. Nicht nur dem Masculinum und Femininum, sondern auch dem Neutrum wird von ihm ein derartiger „natürlicher Anfang“ zugeschrieben, sofern sein eigentlicher Ursprung in dem „Begriff von foetus oder proles lebendiger Geschöpfe“ gesucht wird. Wenn Grimm weiterhin zu zeigen versucht, daß das Masculinum durchgehend das Frühere, Größere, Festere, Sprödere, Raschere, das Tätige, Bewegliche, Zeugende – das Femininum dagegen das Spätere, Kleinere, Weichere, Stillere, das Leidende und Empfangende – das Neutrum das Erzeugte und Gewirkte, das Stoffartige, Generelle, Kollektive, Unentwickelte bezeichne, so ist ihm freilich hierin die moderne Sprachforschung [269] nur zum kleinen Teil gefolgt. Schon im Kreise der indogermanischen Sprachwissenschaft trat der ästhetischen Theorie Grimms die nüchternere Theorie Brugmanns entgegen, die die Ausdehnung des Geschlechtsunterschiedes über die Gesamtheit der Nomina nicht in irgendeiner allgemeinen Wesensrichtung der Sprachphantasie, sondern in bestimmten formellen und in gewissem Sinne zufälligen Analogien begründet sein läßt. Statt von einer Anschauung der Belebung und Beseelung der Dinge, sei die Sprache in der Ausbildung und Fixierung dieses Unterschieds vielmehr durch an sich bedeutungslose Ähnlichkeiten der Lautform geleitet worden: – so habe z. B. der Umstand, daß gewisse „natürliche Feminina“, gewisse Bezeichnungen für weibliche Wesen, auf die Endung -a (-η) ausgingen, dahin geführt, daß allmählich auf rein assoziativem Wege alle mit dieser Endung versehenen Worte derselben Klasse der „Feminina“ zugewiesen wurden[30]. Auch vermittelnde Theorien, die die Ausbildung des grammatischen Geschlechts teils auf anschaulich-inhaltliche, teils auf formale Motive zurückzuführen und die Wirksamkeit beider gegeneinander abzugrenzen versuchten, sind vielfach versucht worden[31]. In seiner ganzen Bedeutung und Weite konnte freilich das Problem, das hier zugrunde liegt, erst erfaßt werden, seit sich durch Ausdehnung der Sprachforschung über den indogermanischen und semitischen Kreis mehr und mehr zeigte, daß der Geschlechtsunterschied, wie er im Indogermanischen und Semitischen besteht, nur ein Sonderfall und vielleicht ein Überrest weit reicherer und weit schärfer durchgebildeter Klasseneinteilungen ist. Geht man von solchen Einteilungen, wie sie insbesondere die Bantusprachen darbieten, aus, so ergibt sich unzweifelhaft, daß die Unterscheidung des Geschlechts im Sinne des „Sexus“ im Ganzen der Mittel, deren sich die Sprache zur Ausprägung „generischer“ Unterscheidungen überhaupt bedient, nur einen relativ geringen Raum einnimmt, – daß hierin also nur eine einzelne Richtung der Sprachphantasie, nicht aber deren allgemeines und durchgehendes Prinzip erfaßt werden kann. In der Tat kennt eine große Reihe von Sprachen die Trennung der Nomina nach dem natürlichen Geschlecht oder nach irgendeiner Analogie desselben überhaupt nicht. Das männliche und weibliche Geschlecht wird hier an unbelebten Wesen überhaupt nicht unterschieden, während es an Tieren entweder durch besondere Worte ausgedrückt oder derart [270] bezeichnet wird, daß dem allgemeinen Namen der Tierart ein Wort hinzugefügt wird, das die besondere Geschlechtsbezeichnung enthält. Auch im menschlichen Kreise tritt diese Bezeichnung ein, indem z. B. ein allgemeiner Ausdruck wie Kind oder Diener durch Zusätze dieser Art zum Ausdruck für Sohn und Tochter, Knecht und Magd u. s. f. gestaltet wird[32].

Humboldt, der gleich Jakob Grimm den Ursprung der sprachlichen Klasseneinteilungen in einer Grundfunktion des sprachlichen „Einbildungsvermögens“ findet, faßt daher dieses Vermögen von Anfang an in einem weiteren Sinne, indem er statt von dem Unterschiede des natürlichen Geschlechts von dem allgemeinen Unterschied des Belebten und Unbelebten ausgeht. Er stützt sich hierbei im wesentlichen auf seine Beobachtungen an amerikanischen Eingeborenensprachen, von denen die meisten den Unterschied des natürlichen Geschlechts entweder gar nicht oder nur gelegentlich und unvollkommen bezeichnen, die aber statt dessen für den Gegensatz zwischen leblosen und lebendigen Gegenständen überall das feinste Gefühl bekunden. In den Algonkin-Sprachen ist es dieser Gegensatz, der die gesamte Struktur der Sprache beherrscht. Ein besonderes Suffix (-a) bezeichnet hier ein Objekt, das in sich die Eigenschaften des Lebens und der selbständigen Bewegung vereint; ein anderes (-i) bezeichnet die Gegenstände, die dieser Attribute ermangeln. Jedes Verbum oder Nomen muß unter die eine oder die andere dieser beiden Klassen fallen: wobei freilich die Unterordnung sich keineswegs allein nach den Merkmalen richtet, die die rein empirische Beobachtung darbietet, sondern durch die Richtung der mythischen Phantasie und der mythischen Naturbelebung entscheidend mitbestimmt wird. So werden z. B. in diesen Sprachen eine große Zahl von Pflanzen – unter ihnen die wichtigsten Pflanzenarten, wie das Korn und der Tabak – der Klasse der belebten Gegenstände zugerechnet[33]. Wenn anderwärts auch die Gestirne mit den Menschen und Tieren grammatisch in dieselbe Klasse versetzt werden, so sieht Humboldt hierin den deutlichsten Beleg dafür, daß [271] sie im Denken der Völker, die diese Gleichsetzung vollziehen, als sich durch eigene Kraft bewegende und wahrscheinlich auch als die menschlichen Schicksale von oben herab leitende mit Persönlichkeit begabte Wesen betrachtet werden[34]. Besteht diese Folgerung zu Recht, so würde sich damit erweisen, daß die Sprache in derartigen Klasseneinteilungen zwar noch unmittelbar mit dem mythischen Denken und Vorstellen verwoben ist, aber daß sie sich andererseits über die erste primitive Grundschicht dieses Denkens bereits zu erheben beginnt. Denn während in dieser Schicht noch eine Form der „Allbeseelung“ herrscht, die das Ganze der Welt und jedes besondere Dasein in ihm gleichmäßig umfaßt und durchdringt, so hebt sich in der Anwendung, die die Sprache von dem Gegensatz der Personen- und Sachklasse zu machen pflegt, aus der allgemeinen Sphäre des „Lebens“ allmählich immer bestimmter das persönliche selbstbewußte Dasein, als ein Sein von eigentümlicher Bedeutung und von eigentümlichem Wert, heraus. So zerfallen z. B. in den Drawida-Sprachen alle Nomina in zwei Klassen, deren eine die „vernünftigen“, deren andere die „unvernünftigen“ Wesen umfaßt – der ersteren gehören außer den Menschen die Götter und Halbgötter, der zweiten außer den unbelebten Dingen auch die Tiere an[35]. Der Schnitt, der hier durch das Ganze der Welt gelegt wird, erfolgt also nach einem wesentlich anderen Prinzip, als nach dem der schlichten und gleichsam differenzlosen mythischen Belebung des Alls. Auch die Bantusprachen scheiden in ihrem Klassensystem scharf zwischen dem Menschen als selbständig handelnder Persönlichkeit und jeder Art des belebten, aber nicht persönlichen Seins. Sie gebrauchen demnach ein besonderes Präfix für Geister, sofern diese nicht als selbständige Persönlichkeiten gedacht werden, sondern als das Belebende oder als das, was einen Menschen befällt, so daß mit diesem Präfix insbesondere Krankheiten, ferner Rauch, Feuer, Ströme, der Mond als Naturkräfte versehen werden[36]. Die Auffassung des im engeren Sinne persönlich-geistigen Seins und Wirkens hat sich damit in der Sprache einen eigenen Ausdruck geschaffen, kraft dessen sie sich von der Lebens- und Seelenvorstellung des bloßen Animismus, von der Ansicht der Seele als einer allgemeinen, aber eben in dieser Allgemeinheit zunächst völlig unbestimmten mythischen Potenz, zu sondern vermag.

Dabei bewährt sich freilich auch an diesem Punkte wieder, daß die [272] Scheidung in eine besondere Personen- und Sachenklasse und die Zuordnung der einzelnen Gegenstände zu je einer dieser beiden Klassen nicht lediglich nach „objektiven“ Kriterien erfolgt, sondern daß hier das begrifflich-logische Gefüge der Wirklichkeit, wie es sich in der Sprache darstellt, mit rein subjektiven, nur im unmittelbaren Gefühl zu erfassenden Unterschieden noch ganz durchsetzt und erfüllt ist. Niemals wird diese Zuordnung durch bloße Wahrnehmungs- oder Urteilsakte, sondern immer zugleich durch Affekt- und Willensakte, durch Akte der inneren Stellungnahme bestimmt. Es ist demgemäß eine häufige Erscheinung, daß der Name eines Dinges, das an sich der Sachenklasse angehört, in die Personenklasse übertritt, um damit den Gegenstand, von dem die Rede ist, nach seinem Wert und seiner Wichtigkeit herauszuheben und ihn als besonders bedeutsam zu kennzeichnen[37]. Selbst in Sprachen, die in ihrer uns bekannten gegenwärtigen Struktur den Unterschied der Nomina nach dem natürlichen Geschlecht durchgeführt haben, schimmert in dem Gebrauch, den sie von ihm machen, oft noch deutlich durch, daß er auf eine ältere Unterscheidung der Personen- und Sachenklasse, die zugleich als eine Wertunterscheidung empfunden wurde, zurückgeht[38]. So eigentümlich solche Phänomene auf den ersten Blick erscheinen mögen, so bekundet sich doch in ihnen nur das Grundprinzip der sprachlichen Begriffsbildung [273] überhaupt. Die Sprache folgt niemals einfach dem Zuge der Eindrücke und Vorstellungen, sondern tritt ihm mit selbständiger Aktion gegenüber: sie unterscheidet, wählt und richtet und schafft vermöge solcher Stellungnahme erst bestimmte Zentren, bestimmte Mittelpunkte der objektiven Anschauung selbst. Diese Durchdringung der Welt der sinnlichen Eindrücke mit den inneren Maßen des Urteils und der Beurteilung hat zur Folge, daß die theoretischen Bedeutungsnuancen und die affektiven Wertnuancen in ihr zunächst noch ständig ineinander übergehen. Aber die innere Logik der Sprache bekundet sich nichtsdestoweniger darin, daß die Unterscheidungen, die sie schafft, nicht alsbald wieder vergehen und sich verflüchtigen, sondern daß sie eine Art von Beharrungstendenz, eine eigentümliche logische Konsequenz und Notwendigkeit besitzen, vermöge deren sie sich nicht nur selbst behaupten, sondern sich auch mehr und mehr von einzelnen Teilen der Sprachbildung über das Ganze derselben ausdehnen. Durch die Regeln der Kongruenz, die den grammatischen Bau der Sprache beherrschen und die namentlich in den Präfix- und Klassensprachen in schärfster Durchbildung vorhanden sind, übertragen sich die begrifflichen Unterschiede, die am Nomen getroffen werden, von hier auf die Gesamtheit aller sprachlichen Formen. Im Bantu muß jedes Wort, das zu einem Substantivum in attributive oder prädikative Beziehung tritt, jede Zahlbestimmung, jedes Adjektiv oder Pronomen, durch das es näher bezeichnet wird, das charakteristische Klassenpräfix des Wortes annehmen. Ebenso bezieht sich hier das Verbum durch je ein besonderes Präfix auf seinen Subjektsnominativ und auf das Wort, das zu ihm im Verhältnis des Objektsakkusativ steht[39]. So beherrscht das Prinzip der Klasseneinteilung, einmal gefunden, nicht nur die Gestaltung der Nomina, sondern greift von hier aus auf die gesamte syntaktische Fügung der Sprache über und wird zum eigentlichen Ausdruck ihres Zusammenhangs, ihrer geistigen „Artikulation“. So erscheint hier die Leistung der Sprachphantasie überall aufs engste verknüpft mit einer bestimmten Methodik des sprachlichen Denkens. Wieder zeigt hier die Sprache bei all ihrer Gebundenheit und Verflochtenheit in die Welt des Sinnlichen und Imaginativen die Tendenz und die Kraft zum Logisch-Allgemeinen, durch die sie sich fortschreitend zu einer immer reineren und selbständigen Geistigkeit ihrer Form befreit.


  1. [1] Vgl. ob. S. 78 ff.
  2. [1] Sigwart, Logik ², I, 320 ff.
  3. [1] Lotze, Logik ², Lpz. 1880, S. 14 ff.; 29 ff.
  4. [1] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 47 ff.), vgl. hrz. die Bemerkungen von B. Delbrück, Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen, Straßb. 1893 ff., I, 42.
  5. [2] Vgl. Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 59 f., 89 f., 190 f. u. ö.) ob. S. 101 ff.
  6. [1] Ein höchst interessanter und lehrreicher Versuch, diese Aufgabe zur Durchführung zu bringen, ist auf Grund eines außerordentlich reichen empirischen Materials von Byrne unternommen worden, s. General Principles of the structure of language, 2 vol., London 1885.
  7. [1] Vgl. Lazarus Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft, 2 Bände, Frkf. a. M. 1868 ff.; Ludwig Noiré, Der Ursprung der Sprache, Mainz 1877 (bes. S. 323 ff.); Logos – Ursprung und Wesen der Begriffe, Lpz. 1885, bes. S. 296 ff.
  8. [1] Vgl. hrz. bes. einen Aufsatz Meinhofs, Über die Einwirkung der Beschäftigung auf die Sprache bei den Bantustämmen Afrikas (Globus, Bd. 75 [1899], S. 361 ff.).
  9. [2] Usener, Götternamen, Bonn 1896, bes. S. 317 ff.
  10. [1] Als ein Beispiel für diesen Prozeß nehme man etwa, was Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter, S. 53, aus dem Altägypt. anführt: „Im Altägypt. bezeichnet das Wort kod der Reihe nach die verschiedenartigsten Begriffe: Töpfe machen, ein Töpfer sein, bilden, schaffen, bauen, arbeiten, zeichnen, schiffen, reisen, schlafen, außerdem substantivisch: Ebenbild, Bild, Gleichnis, Ähnlichkeit, Kreis, Ring. Allen diesen und ähnlichen Ableitungen liegt die Urvorstellung: „umdrehen, im Kreise herumdrehen“ zugrunde. Das Herumdrehen der Töpferscheibe rief die Vorstellung der bildnerischen Tätigkeit des Töpfers hervor, woraus allgemein der Sinn von „bilden, schaffen, bauen, arbeiten“ entstand.“
  11. [2] Am deutlichsten läßt sich dieser doppelte Weg vielleicht an der Gestaltung verfolgen, die der sprachliche Ausdruck der Tätigkeit selbst, die das Verbum in den flektierenden Sprachen erhält. Hier vereinen und durchdringen sich zwei scheinbar ganz verschiedene Funktionen, indem sich im Verbum auf der einen Seite die Kraft der Objektivierung, auf der anderen Seite die Kraft der Personifizierung am klarsten ausprägt. Auf das erstere Moment weist schon Humboldt hin, der im Verbum den unmittelbaren sprachlichen Ausdruck für den geistigen „Akt des synthetischen Setzens“ sieht. „Durch einen und denselben synthetischen Akt knüpft es durch das Sein das Prädikat mit dem Subjekt zusammen, allein so, daß das Sein, welches mit einem energischen Prädikate in ein Handeln übergeht, dem Subjekte selbst beigelegt, also das bloß als verknüpfbar Gedachte zum Vorhandenen oder Vorgange in der Wirklichkeit wird. Man denkt nicht bloß [257] den einschlagenden Blitz, sondern der Blitz ist es selbst, der herniederfährt … Der Gedanke, wenn man sich so sinnlich ausdrücken könnte, verläßt durch das Verbum seine innere Wohnstätte und tritt in die Wirklichkeit über.“ (Einleit. zum Kawi-Werk, W. VII, 1, 214.) Auf der anderen Seite betont z. B. Hermann Paul, daß schon die sprachliche Form des Verbums als solche ein Moment der Naturbelebung in sich schließe, das der mythischen „Beseelung“ des Universums verwandt sei: in der Verwendung des Verbums überhaupt liege schon „ein gewisser Grad von Personifikation des Subjekts“ (Prinzipien der Sprachgeschichte ³, S. 89).
  12. [1] Vgl. ob. S. 147 ff.
  13. [1] Sayce, Introduction to the science of language I, 120.
  14. [2] Trumbull, Transactions of the Americ. Philol. Assoc. 1869/70; vgl. Powell, Introduction to the study of Indian languages, Washington 1880, S. 61. – Für Einzelheiten s. die Beispiele aus den Algonkin-Sprachen u. aus den Sprachen der Sioux-Indianer in Boas’ Handbook I, 807 ff., 902 ff. u. ö.
  15. [3] Vgl. Sayce, a. a. O., II, S. 5.
  16. [4] K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, Berl. 1897, S. 84.
  17. [1] S. Hammer-Purgstall, Das Kamel. Denkschriften der Kais. Akad. d. Wiss. zu Wien. Philos.-histor. Kl., Bd. VI u. VII (1855 f.).
  18. [1] Curtius, Grundz. der griech. Etymologie 5, S. 98 f.; zum Ganzen s. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Akad. Rede, Heidelberg 1899.
  19. [1] Näheres hierüber in m. Schrift „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“, bes. Kap. 1 und 4.
  20. [1] Wundt Völkerpsychologie ², 11, 15 f.
  21. [2] Daß übrigens viele dieser „klassifikatorischen Suffixe“, gleich anderen Suffixen, auf konkrete Begriffs- und Stoffworte zurückgehen, ist unverkennbar (Vgl. hrz. Kap. 5). Im Gebiet der indogermanischen Sprachen scheint ein derartiger Zusammenhang im einzelnen allerdings meist nicht mehr etymologisch nachweisbar zu sein; s. hrz. die Bemerk. in Brugmanns Grundriß ², II, 184, 582 ff. u. ö.
  22. [1] S. ob. S. 61 f.
  23. [1] Codrington, Melanesian languages, S. 146 f. – Was die amerikanischen Sprachen betrifft, so zerlegt z. B. die Haida-Sprache alle Nomina in verschiedene, durch sinnlich-räumliche Merkmale gekennzeichnete Gruppen, unterscheidet also scharf die Gruppe der „langen“, der „dünnen“, der „runden“, der „flachen“, der „eckigen“, der „fadenförmigen“ Gegenstände. S. Swanton, Haida in Boas’ Handbook I, 216, 227 ff.
  24. [1] S. die Darstellung der Klassenpräfixe in Meinhofs vergl. Grammat. der Bantusprachen, S. 8 ff., 16 ff.
  25. [2] Vgl. Powell, Introd. to the study of Indian Languages, S. 48. – In der Ponca-Sprache, die zwischen belebten und unbelebten Gegenständen unterscheidet, dient in der ersteren Klasse ein besonderes Präfix dazu, um einen ruhenden, ein anderes, um einen bewegten Gegenstand zu bezeichnen, ein Präfix wird für ein einzelnes belebtes Wesen, wenn es steht, ein anderes für ein solches Wesen, wenn es sitzt, gebraucht u. s. f. cf. Boas und Swanton, Siouan in Boas’ Handbook I, 940.
  26. [3] S. ob. S. 156 ff.
  27. [4] Bezeichnend hierfür ist insbesondere die sehr merkwürdige Klasseneinteilung der südandamanischen Sprachen, die von E. H. Man (On the aboriginal[WS 1] inhabitants of the Andaman Islands, with report of researches into the language of the South Andaman Island by A. J. Ellis, London 1883) eingehend beschrieben worden ist; Ergänzungen zu der Darstellung Mans sind von M. V. Portman, Notes on the Languages of South [267] Andaman Group of Tribes, Calcutta 1898, gegeben worden. Im Klassensystem des Andamanischen bilden zunächst die menschlichen Wesen eine besondere Klasse, die von den sonstigen Nomina unterschieden wird; dann aber werden die einzelnen Körperteile, sowie die Verwandtschaftsnamen in Gruppen abgeteilt, die sprachlich scharf voneinander getrennt werden, so daß z. B. für jede besondere Gruppe besondere possessive Fürwörter, besondere Ausdrücke des mein, dein, sein u. s. f. im Gebrauch sind. Zwischen den einzelnen Körperteilen selbst und den Verwandtschaftsgruppen besteht dann weiterhin wieder eine Reihe analogischer Zuordnungen und „Identitäten“. (Cf. Man, a. a. O., S. 51 ff. und Portman, a. a. O., S. 37 ff.).
  28. [1] Vgl. hrz. die Darstellung des Systems der „Lokativpräfixe“ der Bantu-Sprachen in Meinhofs Bantugrammatik, S. 19 ff.
  29. [1] Näheres hierüber in m. Aufs. „Die Begriffsform im mythischen Denken“ (Studien der Bibliothek Warburg I), Leipzig 1922.
  30. [1] S. Brugmann, Das grammatische Geschlecht in den indogermanischen Sprachen, Techmers Zeitschr. für allgem. Sprachwissensch. IV, 100 ff.; vgl. auch Kurze vgl. Grammat., S. 361 ff.
  31. [2] Vgl. z. B. Wilmans, Deutsche Grammatik, III, 725 ff.
  32. [1] Dieses Verfahren, das vor allem in den finnisch-ugrischen u. den altaischen Sprachen gilt, deren keine eine Genusbezeichnung im Sinne des Indogermanischen kennt, ist auch sonst weit verbreitet. Für die letzteren s. z. B. Boethlingk, Die Sprache der Jakuten, S. 343 und J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 22 ff.; für andere Sprachkreise s. H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 88; Westermann, Die Sudansprachen, S. 39 ff.; Matthews, Languages of some native tribes of Queensland, J. and Proc. of the Royal Soc. of N. S. Wales XXXVI (1902), S. 148, 168.
  33. [2] Zur Klassenbildung der Algonkin-Sprachen s. W. Jones, Algonquian (Fox) in Boas’ Handbook I, 760 f.
  34. [1] Humboldt, Einl. zum Kawi-Werk, W. VII, 1, 172 f.
  35. [2] Fr. Müller, Grundr. der Sprachwissensch. III, 1, 173; Reise der Fregatte Novara, S. 83.
  36. [3] S. hierf. die Beispiele bei Meinhof, Bantugrammatik, S. 6 f.
  37. [1] In der Gola-Sprache in Liberia erhält (nach Westermann, Die Gola-Sprache, S. 27) ein Hauptwort, dem eigentlich ein anderes Präfix zukommt, häufig das o-Präfix der Menschen- und Tierklasse, wenn es als ein besonders großer, hervorragender, wertvoller Gegenstand hervorgehoben werden soll, der um dieser Eigenschaften willen in die Klasse der lebenden Wesen versetzt wird: „so sagt man neben kesie Ölpalme auch osie, dadurch diese Palme als einen der wichtigsten Bäume auszeichnend, kekul Baum, aber okul ein besonders großer schöner Baum; ebu Feld, aber obuo das große, üppig stehende Feld. Die gleiche Versetzung in die o-Klasse findet auch bei Bäumen oder anderen Gegenständen statt, die im Märchen redend oder handelnd auftreten.“ In den Algonkin-Sprachen werden häufig kleine Tiere der Klasse der „unbelebten“ Gegenstände, dagegen bestimmte besonders wichtige Pflanzenarten der Klasse der „belebten“ Gegenstände zugerechnet, s. ob. S. 270 und Boas’ Handbook I, 36.
  38. [2] Charakteristische Beispiele hierfür werden von Meinhof und Reinisch aus dem Bedauye angeführt, wo z. B. ša’ die Kuh, als Hauptstütze des gesamten Hauswesens, masculini generis, dagegen ša’ das Fleisch ein Femininum ist, da es von minderem Belang ist (S. Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, S. 139). Auch in den Semitensprachen hat – nach Brockelmann, Grundriß I, 404 ff. – die Unterscheidung der Nomina in die Genera des Masculinum und Femininum mit dem natürlichen Sexus wahrscheinlich von Hause aus nichts zu tun; vielmehr liegt auch hier eine ursprüngliche Rang- und Wertunterscheidung zugrunde, die im Gebrauch des Femininums als Deteriorativ- und Deminutivform noch in Resten erkennbar ist. Vgl. bes. Brockelmann, Grundr. II, 418 ff. und Kurzgef. vergl. Grammat., S. 198 ff.
  39. [1] Vgl. hrz. die Darstellung der Syntax der Bantusprachen bei Meinhof, S. 83 ff. Ähnliches gilt für die Syntax der meisten Indianersprachen, vgl. hrz. Powell, Introduct. to the study of Indian languages, S. 48 f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aborginal