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Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849

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Textdaten
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Autor: Carl Munde
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Titel: Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10 und 11, S. 152–156 und 168–171
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Carl Mundes Flucht nach dem Dresdner Maiaufstand
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[152]
Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849.
Von Carl Munde.[1]


Die Dresdner Ereignisse von 1849 sind bekannt. Ich war Mitglied des Centralausschusses der Vaterlandsvereine, Stadtverordneter, als solcher und als Commandant der gesetzlich organisirten, obgleich durch und durch demokratischen, Turner-Waffenschaar Mitglied des Ausschusses der Dresdner Bürgerwehr und nahm folglich an allen Beschlüssen dieser Körper Theil, während ich mit meiner Schaar, als der einzigen, die an jenem verhängnißvollen zweiten Mai in geschlossener Ordnung und von ihren ordentlichen Officieren geführt vorrückte, zur Unterstützung des Volkes vorzugehen wagte.

Am fünften Mai, nachdem ich eben auf der dem Schloß am nächsten gelegenen Barricade den Soldaten eine kurze Rede gehalten, wurde vom Schloß und den geistlichen Häusern aus ein lebhaftes Feuer auf mich eröffnet, als ich die Barricade hinabstieg und mitten unterm Feuer nach dem Hotel de Pologne zurückging, durch das ich herausgekommen war. Die Kugeln pfiffen rechts, links und über mir vorbei, wohl fünfzig, ehe mich eine traf. Diese eine traf aber! Ich fühlte deutlich, wie sie durch den linken Unterschenkel ging, setzte indeß mit Hülfe eines spanischen Rohres, das ich wegen eines auf der Barricade vertretenen Fußes in der rechten Hand trug, meinen Weg noch um einige Schritte fort, bis ich die Thür des Hotel de Pologne erreichte und dort meinen Leuten in die Armes fiel. Der Blutverlust war so stark, daß ich bald meine Sinne schwinden fühlte und nur eben noch Zeit hatte, anzuordnen, daß man mich durch das Haus des Bankier Kaskel nach der Löwenapotheke tragen solle, wo ein Verbandplatz angelegt war.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich, in kaltem Schweiße gebadet, auf einem Strohlager am Boden der Apotheke und rechts und links neben mir andere mehr oder minder schwer Verwundete. Ein junger Arzt kniete zu meinen Füßen und untersuchte, meinen entblößten Fuß in der Hand, meine Wunde. Meine Frage, ob Knochen entzwei wären, verneinte er. Am nächsten Tage brachte jedoch mein Diener Hingst meinen Strumpf, in welchem noch einige Knochensplitter staken. Er sagte, er habe schon eine Menge herausgewaschen. Späterhin fand sich, daß das Wadenbein ganz entzwei und die Hälfte des Schienbeines fort war; daß ich also die letzten Schritte, welche ich nach der empfangenen Kugel noch gethan, blos auf einem halben Schienbein gemacht hatte. Das Bein schwoll schnell an und erschwerte die Untersuchung.

Nachdem ich durch einen Freund meiner Frau einige Zeilen gesandt, ließ ich mich in einem Krankenkorbe durch die Scheffelgasse und, da diese an der Wallstraße von einer Barricade gesperrt war, durch das jetzige Hôtel garni von Meisel nach meiner Wohnung in der Oberseergasse tragen, wo mich mein treues Weib unter Thränen der Freude und des Schmerzes empfing. Welche Freude, daß ich wenigstens nicht todt nach Hause gebracht worden!

Da lag ich nun drei Tages ohne anderen Verband, als nasse Tücher, welche ich oft mit frischem Wasser anfeuchtete, und ohne etwas zu essen. Alles, was ich genoß, war eine Flasche Rothwein, welche mir bei meiner Ankunft Jemand reichte und die ich ohne Absetzen ausleerte, so begierig war ich, das verlorene Blut zu ersetzen. Währenddem wurde der Kampf wilder und wilder. Endlich am achten Nachmittags kam mein Freund Dr. Herz zu mir und sagte mir, er fürchte, wir würden nicht lange mehr Widerstand leisten können; wenn ihn nicht Alles täusche, so werde die Stadt noch in dieser Nacht genommen werden. Das bewog mich denn doch, meinen Diener nach einem Wagen zu schicken, um mich nach irgend einem benachbarten Orte zu führen. Nach vieler Mühe hatte er einen Bauer aufgetrieben, der bereit war mich gegen eine Vergütung nach Tharand mitzunehmen.

Es wurde also eine Matratze auf den Boden des Wagens gelegt, ich hinein gehoben, und einige Kleidungsstücke, nebst meinem Säbel, neben mich gelegt; dann stieg meine Frau mit einem dritthalbjährigen Kinde und einer meiner älteren Söhne von etwa fünfzehn Jahren, Albert, auf den Wagen, und zuletzt der Bauer selbst, und nun ging es, begleitet von vier meiner Scharfschützen mit geladenen Büchsen, zum plauenschen Schlage hinaus nach Tharand zu. Eine Stunde von Dresden schickte ich meine Escorte zurück, erreichte Tharand gegen elf Uhr Abends ohne Unfall und fand bei einer uns befreundeten Kaufmannswittwe gastfreie Aufnahme und Pflege.

Früh am Morgen schickte ich nach einem Wundarzte, um meine Wunde untersuchen und einen ordentlichen Verband anlegen zu lassen. Er hatte eben die Sonde eingeführt, als mein Sohn ins Zimmer stürzte mit der Nachricht, Dresden sei genommen und Zuzügler und Flüchtlinge kämen in großen Massen die Straße hergezogen. Er habe Heubner gesprochen, der sogleich hier sein werde.

Hastig folgte ihm dieser und fragte mit kaum erkennbarer heiserer und rauher Stimme: „Wie geht Dir’s, Munde?“

„Schlecht, wie Du siehst!“

„Es ist Alles vorüber. Du kannst hier nicht bleiben. Komm’ mit uns im Regierungswagen.“

„Ich kann nicht sitzen und muß das Bein hoch liegen haben.“

„Gut, so will ich einen Bauerwagen für Dich requiriren; er soll sogleich hier sein.“

„Was denkt Ihr zu thun?“

„Wir setzen uns in Freiberg.“

„Das geht nicht. Ihr könnt Euch da nicht halten.“

„Wir versuchen es; mit den Zuzüglern haben wir über zehntausend Mann.“

[153] „Deren laufen drei Viertheile davon. Macht, daß Ihr weiter kommt.“

„Ich muß fort. Adieu. Auf Wiedersehen in Freiberg!“

Der Arme wußte nicht, welches Schicksal ihm in Chemnitz bevorstand, das er mit Bakunin und Martin todmüde in der nächsten Nacht erreichte. Wir sahen uns wieder, aber nicht in Freiberg, nachdem ich siebzehn Jahre in Amerika und er zehn Jahre in Waldheim verlebt! Bakunin sah ich im Jahre 1861 in New-York, auf seiner gelungenen Flucht aus Sibirien.

Mein Verband konnte nicht angelegt werden. Heubner war so gut wie sein Wort. Der Wagen, mit zwei jungen munteren Braunen bespannt, kam, ehe ich noch mit dem Ankleiden fertig war. Meine Matratze und ich selbst wurden hineingelegt, mein Sohn folgte mit meiner eiligst in ein paar Taschentücher gebundenen Wäsche. Dann setzten sich noch einige Bewaffnete zu mir. Den Säbel ließ ich zurück, da ich mich doch nicht wehren konnte. Nur ein Dolchmesser steckte ich als Waffe zu mir. Und nun kam der sehr schmerzliche Abschied von Weib und Kind, die nach Dresden zurückkehrten. Wußte ich ja nicht, ob und wann ich sie wieder sehen würde. Die Aufregung und die Unklarheit über unsere Lage halfen uns darüber weg. Noch hatte ich immer mehr das Ganze im Auge als mich selber.

Tharand und die Straße nach Grüllenburg fand ich voll flüchtiger Bewaffneter, zu Fuß, zu Wagen und zu Pferd; manche auf erbeuteten Cavaleriepferden. Viele Bekannte drängten sich an mich und schüttelten mir die Hand. Die Meisten hatten die Gesichter mit Pulver geschwärzt, die Augen geröthet, die Stimmen heiser und rauh, die Kleider beschmutzt, zerrissen; die Haare hingen ihnen wild um den Kopf. Manche waren sechs Tage und Nächte nicht von den Barricaden und dem Pflaster weggekommen.

Bald ließ ich Alle hinter mir zurück. In Grüllenburg traf ich den Vortrab der kleinen Armee, welche Dresden zu Hülfe zog – ich will nicht sagen eilte; denn sie kamen zu spät. Ich ließ den Commandirenden herbeirufen und sagte ihm, er könne gleich wieder umkehren, der vierspännige Regierungswagen folge mir auf dem Fuße. Er wollte mir nicht glauben. Es war Prößel aus Chemnitz. Ich sah ihn in New-York wieder, wo er ein Hôtel in Beekman-Street hielt.

Am Hammerberge bei Freiberg trafen wir auf das Gros der Armee. Die Straße war ganz schwarz von Bewaffneten, so weit wir sehen konnten. Nachdem ich ihnen die ersten Nachrichten aus Dresden mitgetheilt und sie zur Umkehr aufgefordert hatte, fuhr ich, so schnell es ging, auf einem Seitenwege aus dem Gedränge nach der Wohnung meiner Schwester, welche glücklicherweise, so wie meine eigene in Dresden, in der Vorstadt lag. Während des kurzen Haltes unter den Zuzüglern hatte ich Gelegenheit zu bemerken, daß die Masse derselben nicht durchgängig aus kampfbereiten Truppen bestand. Da war Freiberger und Chemnitzer Communalgarde, von letzterer eine Abtheilung zu Pferd, welche nicht nur offenbar froh waren, wieder umkehren zu können, sondern die, wie es schien, von den dazwischen eingekeilten Turner-Compagnien zum Kampf getrieben wurden. Ein paar Cavaleristen, welche sich, nach der Meinung der Grauen, zu weit von der Colonne hinweg in’s Feld begeben, wurden wenigstens durch ein paar Kugeln der letzteren schnell wieder zurück gebracht. So lange es Tag war, hielt sich die Armee ziemlich zusammen. Beim Dunkelwerden aber zerstreute sich der ganze Troß wie Asche vor dem Wind, und was etwa noch zusammenhielt, flüchtete nach Chemnitz zu, mit der provisorischen Regierung in der Mitte.

So brach wieder eine von den Nächten herein, welche mir so wenig Ruhe brachten und die ich voll Schmerz und Kummer durchwachte. Gegen sechs Uhr Morgens sah ich durch ein Fenster meines Zimmers, von meinem Bett aus, sächsische Cavalerie und reitende Artillerie über den Hammerberg herabkommen. Die Thore der Stadt wurden besetzt und auf dem Marktplatze, auf welchem noch ein Stein die Stelle bezeichnet, wo Kunz von Kauffungen, der Prinzenräuber, enthauptet worden, fuhr man Kanonen auf. Sofort wurde Alles arretirt, was irgend wie verdächtig war. Zum Glück hatte die Polizei zu viel im Innern der Stadt zu thun, um sich um die Vorstädte und mich zu bekümmern. Und ich lag so ungestört den ganzen Tag, ungewiß was aus mir werde würde. Viele meiner Cameraden besuchten mich am ersten Tage. Alle versprachen mir einen Wagen zu schaffen. Keiner konnte Wort halten. Sämmtliche Pferde waren von den Flüchtigen in Beschlag genommen worden. Am nächsten Tage, den 10. Mai, besuchte mich ein Bergmann, Schüttauf mit Namen, der mit mir von Tharand nach Freiberg gefahren, und fragte, ob er etwas für mich thun könne. Ich bat ihn, nach Halsbrücke zu einem Verwandten zu gehen, diesen zu fragen, ob ich ein paar Tage bei ihm bleiben könne, und wenn er eine günstige Antwort erhielt, einen Wagen zu miethen und mit diesem Schlag halb Sieben durch die Hinterthür im Hofe des Hauses sich einzufinden, um mich abzuholen. Im Gasthof zum „wilden Mann“, vorn gegenüber, stand ein Piket sächsischer Reiter. Der Wagen kam pünktlich. Ich nahm Abschied von meiner guten alten Mutter und meiner Schwester. Ich habe keine von Beiden wiedergesehen! Mein Schwager setzte mir eine Berguniformsmütze auf den Kopf und hing mir einen Officiantenmantel um, und so wurde ich in den leichten offenen Wagen gehoben; mein Sohn Albert setzte sich neben mich, und nun fuhren wir auf wohlbekannten Nebenwegen hinter der Stadt – meiner Geburtsstadt – herum nach dem eine Stunde entfernten Halsbrücke zu.

Hier wurde ich vom Vetter Ludwig und seiner freundlichen jungen Frau wie ein Bruder aufgenommen und so bequem installirt, daß ich gern lange geblieben wäre, wenn es sich nur hätte thun lassen. Ich werde nie die Liebe und Pflege vergessen, welche mir in den sechsundzwanzig Stunden, die ich bei diesen treuen Verwandten zubrachte, zu Theil wurde. Allein schon am nächsten Mittag sagte mir Ludwig, daß das ganze Dorf meine Anwesenheit wisse und daß die Polizei sicher am nächsten Tage da sein würde, sobald sie nur in der Stadt ein wenig aufgeräumt hätte.

Wir berathschlagten, wohin man mich bringen könne. Ludwig’s Frau nannte ihren Vater, welcher in Bräunsdorf wohnte und der wohl im Stande sein werde mich zu verbergen. Der Fuhrmann, welcher mich gebracht, wurde wieder engagirt, aber dieses Mal mit einem Korbwagen. Als es dunkel war, wurde meine Matratze wieder eingelegt, ich darauf, dann eine Partie Hausgeräth über mich gepackt, so daß das Ganze wie ein Auszug aussah, eine Plane über den Wagen gezogen, und so ging es in die Nacht hinaus, nach Bräunsdorf zu. Cousin Ludwig und Albert marschirten zu Fuß vor und neben dem Wagen her.

Wir erreichten Bräunsdorf gegen zwei Uhr Morgens und hielten vor dem Hause des alten Herrn an, der nach einigem Pochen sich hören ließ. Er weigerte sich mich aufzunehmen, da es keine zwei Tage verschwiegen bleiben könne. Auf meine Bitte händigte er mir durch Ludwig fünfzig Thaler in einer Rolle ein. Eine andere Summe hatte mir ein edler Freund in Freiberg geliehen, dessen Hülfe ich schon dreizehn Jahr früher mein Leben und meine Gesundheit dankte. Wir waren also gezwungen, unsere Reise fortzusetzen. Ich wußte nicht wohin. Da fiel mir der Gerichtsdirector Schiffner in Mittweida ein, sowie der Abgeordnete Müller von Taura. Wir fuhren weiter auf Haynichen und Mittweida zu, obgleich ich nicht wußte, wie mir die beiden Gesinnungsgenossen helfen sollten.

Bei einem einzelnstehenden Wirthshause vor Haynichen nahm Vetter Ludwig Abschied von mir, um nach Haus zurückzukehren. Wie ich später erfuhr, begegnete er nicht weit vom Gasthofe und am Saum eines Waldes einer Reiterpatrouille, deren Aufmerksamkeit er auf sich zu lenken wußte und die ihn arretirte, um ihn nach Freiberg zurückzuführen, wo er, recognoscirt, sofort in Freiheit gesetzt wurde. Ohne seine Geistesgegenwart und seine Opferbereitschaft hätte die Patrouille vermuthlich mich gefangen.

Ich übergehe die Schicksale auf meiner Fahrt bis zum ersten altenburgischen Dorfe, Wolperndorf. Es war mitten in der Nacht, als wir dort anlangten. Ich lag fast beständig in Schlafwachen und kam erst wieder zu klarem Bewußtsein, als die beiden Männer an dem Thore des altenburgischen Gasthofs pochten, daß das ganze Dorf hätte erwachen mögen. Trotz alles Lärmens regte sich Niemand: es war sicher, daß der Wirth, wegen der vielen, zum großen Theil bewaffneten Flüchtlinge, an denen kaum etwas zu verdienen war, nicht öffnen wollte. Endlich stiegen die Männer über die hohe Mauer in den Hof, und nach vieler Mühe und nachdem sie sich mit dem großen Kettenhund herumgeschlagen, der sie wüthend anfiel, gelang es ihnen, den Wirth und seine Tochter herauszuklopfen.

Ich hörte, wie der Wirth sich weigerte, mich aufzunehmen, und wie er nur durch vieles Zureden, namentlich auch Seitens seiner Tochter, sich bewegen ließ, endlich das Thor aufzumachen [154] und zu gestatten, daß der Wagen in den Hof fuhr. Er lamentirte fortwährend über die Strafe, in die er verfallen würde, wenn man mich bei ihm fände, wurde jedoch sofort entwaffnet, als ich ihm die bewußte Rolle mit fünfzig preußischen Thalern aus dem Wagen langte und ihm rieth, sich davon bezahlt zu machen, wenn ich entdeckt würde, was wir jedoch auf alle Weise verhüten müßten. Als seine Tochter, ein braves und hübsches Mädchen – welchem der Himmel hoffentlich seitdem einen eben so braven Mann und gute Kinder bescheert haben wird – mich aus dem Wagen herausheben sah, bleich und blutig, wie ich es war, brach sie in lautes Weinen aus, fiel ihrem Vater um den Hals und beschwor ihn, ja Alles für mich zu thun, was er könne, um mich vor den umherstreifenden Gensd’armen zu retten. Der Alte versprach es und hat redlich Wort gehalten. Wenn er noch lebt, möge er meinen herzlichen Dank und Händedruck freundlich aufnehmen, der ehrliche und warmherzige Rauschenblatt! – Er hat durch meine Rettung nichts Böses gethan.

Für diese letztere handelte es sich nun zunächst um zwei Dinge: erstens um ein Versteck, wo ich meine Wunde hinreichend heilen lassen konnte, um meine Reise fortsetzen zu können, oder zweitens, um die Mittel und Wege zu augenblicklicher Fortsetzung dieser Reise, bis ich an sicherem Orte meine Herstellung abwarten konnte. Zu einem oder dem andern dieser Wege bedurfte ich die Hülfe von Freunden, sowie der hinreichenden Geldmittel. Um mir zunächst einigen Beistand in der Nähe zu verschaffen, schrieb ich an den Prediger des Ortes, nach dessen Charakter ich mich beim Gastwirth und seiner Tochter erkundigt hatte, und schickte meinen Sohn nach dem Pfarrgut. Der brave Mann besuchte mich sogleich und erklärte sich, nachdem ich ihm über meine Lage und Verhältnisse Auskunft gegeben, ohne Bedenken bereit, mir beizustehen. Er war kürzlich erst verheirathet und versprach mir, als ich ihm von meiner Frau und meinem jüngsten Knaben erzählte, sein junges Weibchen mir zuzuführen. Er hielt Wort, und ich danke der lieben, freundlichen und sehr hübschen jungen Frau manchen Trost und manche Erheiterung in den traurigen vier Tagen, welche ich in Wolperndorf zubrachte. Hoffentlich führt mich das Schicksal vor meinem Tode noch einmal mit ihnen zusammen, damit ich ihnen für all’ das Liebe und Gute, das sie dem fremden Flüchtling erzeigt, nochmals mündlich und von ganzem Herzen danken kann.

Nun schrieb ich an mehrere Freunde und bat sie, ihre Antworten an den Herrn Pastor H. zu adressiren. Dann schickte ich Boten aus, um mich über die Vorgänge um mich her zu erkundigen, zugleich aber, um Mittel und Wege ausfindig zu machen, durch die ich in Sicherheit kommen könnte. Einer meiner Boten brachte mir einige Zeilen vom amerikanischen Consul in Leipzig, Dr. Flügel, dem Verfasser des bekannten großen englischen Wörterbuchs und einem mehrjährigen Freunde. Er bedauerte, selbst nichts Wesentliches für mich thun zu können, rieth mir aber, mich an Dr. Rittler in Altenburg zu wenden, welcher in seinem Hause eine geheime Zufluchtsstätte für politische Flüchtlinge seit Jahren hatte. Ich erinnerte mich, mit dem Doctor in Dresden bekannt geworden zu sein, und schickte denselben Boten sofort mit dem Auftrage an ihn, mir Antwort mitzubringen. Am nächsten Tage kam er mit einem Briefe, in welchem der Doctor mich bat, mich am folgenden Nachmittage, Mittwoch den 16. Mai, drei Uhr, fertig zu halten, vorher aber meinen Bart abzuschneiden und mich sonst möglichst unkenntlich zu machen. Der Bart fiel, wie damals mancher andere, zum großen Bedauern der hübschen Jungfer Rauschenblatt und zu meinem eigenen Leidwesen; denn er war damals noch schwarz. Mein Sohn schnitt mir das Haar kürzer, und es bedurfte nur noch einiger kleinen Veränderungen an meinem Anzuge, um mich Leuten, die mich nicht oft gesehen, unkenntlich zu machen. Denn schon hatten die ertragenen Leiden und der Mangel an Nahrung, zu welcher der Appetit erst später wiederkehrte, in meinen Gesichtszügen, meiner sonst straffen Haltung und selbst in meiner ansehnlichen Größe und kräftigen Gestalt eine sehr nachtheilige Veränderung hervorgebracht.

Die Nacht vor meiner erwarteten Abreise und noch ehe ich die obige Toilettenveränderung an mir vorgenommen, hatte ich noch einen Schrecken. Ich erwachte bald nach Mitternacht durch das wiederholte laute Pochen am Hofthore, und als der Wirth zum Oeffnen aufstand und den Pochenden nach seinem Begehr fragte, hörte ich deutlich meinen Namen und bald darauf einen Wagen in den Hof rollen. In größter Hast weckte ich meinen in einem Bett mir zur Seite festschlafenden Sohn und gab ihm schnell einige Instructionen. Ich selbst aber faßte meinen Dolch, hielt ihn unter die Decke und wartete nun in einer verzweifelten Entschlossenheit der Dinge, die da kommen sollten. Bald hörte ich die Tritte von zwei Männern, welche zur Treppe herauf und, der Wirth mit der Laterne voran, zu meiner Kammerthür herein traten. Sein Begleiter war ein langer Mann in militärischer Haltung, doch ohne Bart.

„Nun, da ist er ja!“ rief er aus, als er mich sah.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“ erwiderte ich.

„Ich bin der Kriegsreservist N. (den Namen habe ich vergessen) und habe unter Ihnen in der Schloßgasse gekämpft. Ich war dabei, als Sie verwundet wurden. Der Bart fehlt und das macht mich unkenntlich. Kennen Sie mich jetzt?“

Ich besann mich, daß ich einmal einem Manne seines Namens Geld geliehen, der es mir nicht zurückgebracht hatte. Dies geschah den Führern der demokratischen Partei damals oft, da viele Lumpen sich an sie drängten, die nur mit der Maske des Demokraten Eintritt in anständige Kreise fanden. Es war mir, als hätte ich sonst noch Uebles über den Mann gehört, doch wußte ich nicht was. Auf jedem Fall hielt ich es für klug, vorsichtig zu sein und ihm nichts von meinen Plänen und Aussichten zu entdecken. Nach einigem Hin- und Herreden fand ich heraus, daß er in Dresden bei meiner Frau gewesen und ihr angeboten, mich zu retten, und daß sie ihm einiges Geld und meine Adresse in Freiberg gegeben. Meine Verwandten in Freiberg hatten ihm gesagt, daß ich nach Halsbrücke gegangen. In Freiberg hatte er auf meine Rechnung einen Lohnkutscher genommen und war mit ihm zu den Verwandten in Halsbrücke gefahren. Dort hatte man ihm meinen Reiseplan mitgetheilt und den Wagen und Fuhrmann beschrieben, mit dem ich abgereist. Unterwegs hatte er den letzteren getroffen und von ihm eine genaue Beschreibung meines Aufenthaltes erhalten. Und so hatte er mich gefunden. Wie ich später erfuhr, hatten meine Verwandten den Lohnkutscher bezahlen müssen, und es schien, die ganze sonderbare Anhänglichkeit war mehr auf eine Prellerei und auf Rettung seiner eigenen Person gerichtet, als auf meine Sicherheit. Sollten wir uns darin geirrt haben, so bitte ich hiermit aufrichtig um Verzeihung.

Am Nachmittag kam Rittler zur festgesetzten Stunde und brachte seinen neunjährigen Sohn Anton mit, damit der Wagen mehr das Ansehen einer Familienangelegenheit erhalte. Durch die Erfahrung klug geworden, schärften wir den Freunden in Wolperndorf ein, Niemand, wer es auch sei, meinen Aufenthalt zu verrathen, und fuhren nach herzlichem Abschied und mit dankerfülltem Gemüth gegen alle die guten Menschen davon. Nur einmal hatte ein Gensd’arm, der Albert gesehen, angefragt, aber zum Bescheid erhalten, daß der junge Mensch auf der Pfarre zum Besuch sei; so viel man wisse, sei er ein Vetter oder gar ein Bruder der Frau Pastorin. Nachdem Rittler sich überzeugt, daß ich geläufig und mit gutem Accent englisch sprach – Engländer hatten mich schon hier und da für einen Landsmann gehalten – kamen wir überein, daß ich als Amerikaner, und zwar als Mr. Charles Murray (das C. M. mußte der Wäsche etc. wegen beibehalten werden), der beim Umwerfen des Wagens ein Bein gebrochen, im Hause des Doctors eingeführt werden und dort an seinem Schaden behandelt werden sollte. Deutsch durfte ich nur wenig und nur gebrochen sprechen, außer wenn wir ganz allein waren. Die Frau Doctorin hatte mehrere Jahre in England gelebt und sprach gut englisch; und so konnte sie die Dolmetscherin machen, und Niemand konnte eine Idee haben, daß Mr. Murray von New-York eigentlich Niemand anders als Dr. Munde von Dresden sei. Um dem Factum das Siegel aufzudrücken, sollte ein junger Engländer, der sich in Altenburg aufhielt und Rittlers häufig besuchte, bei mir eingeführt werden. Und so geschah es denn, und zwar, trotz der vielen Chancen, denen unser Plan ausgesetzt war, mit glücklichem Erfolg. Rittler hatte es eingerichtet, daß wir im Dunkeln in Altenburg ankamen, welches von einem Bataillon Preußen besetzt war. Wir wurden zwei Mal von Schildwachen angehalten. Meines Freundes „Doctor Rittler“ mit einem kräftigen Druck der Hand auf den Nacken seines Söhnleins, der dessen Gesicht zum Wagenschlag hinaus beförderte, hatte ein gleichgültiges „Passirt!“ zur Folge, und so gelangten wir glücklich an des Doctors Haus, wo wir [155] die gute Frau Doctorin und den erwähnten jungen Engländer schon im Flur unser wartend fanden.

„Ick war sähr mude,“ drückte aber bald mein lebhaftes „pleasure“ aus, Jemand zu finden, „who could speak English“, als sie Beide mich in dieser Sprache anredeten, und wurde, auf das Drängen des Doctors sofort zur Treppe hinauf und zu Bett gebracht, wobei der kräftige junge Englishman hülfreiche Hand leistete. Bald waren wir allein, d. h. der Doctor, seine Frau und ich, und nach kurzer Unterhaltung fühlte ich, daß ich Ursache hatte, meinen Freund Flügel und mein Geschick zu segnen, das mich in den Schooß einer so lieben und guten Familie gebracht, einer Familie, welche lange Uebung in solchen Werken der Barmherzigkeit hatte. Denn sie waren nicht nur gut, sondern auch klug und schweigsam, da während eines Aufenthalts von mehr als sechs Wochen auch nicht ein Hauch von meiner Anwesenheit nach außen hin verrathen wurde, ja meine Gegenwart sogar den vom Doctor absichtlich in’s Quartier genommenen preußischen Soldaten gänzlich verborgen blieb.

Rittler hielt es für das Beste, daß ich bei ihm blieb, bis meine Knochen wieder zusammengeheilt und die Wachsamkeit der Polizei nachgelassen haben würde. Und so richtete ich mich denn häuslich ein, und zwar in einem kleinen Gartenzimmer, das einen von Laubwerk versteckten Ausgang nach dem etwas hochgelegenen Garten und einen andern nach innen hatte, der leicht durch einen Kleiderschrank versetzt werden konnte. Das einzige Fenster ging in den Hof und war theilweise von Weinlaub verborgen, so daß man von außen nicht herein sehen konnte, während ich das Vergnügen hatte, die preußischen Pickelhauben auf ihren Pflöcken an einer gegenüber befindlichen Galerie zu betrachten, wenn ich Neigung dazu fühlte. Ich fand unter diesen Umständen die Kraft, mich mit einer literarischen Arbeit zu beschäftigen, die ich später in Brüssel an den Mann brachte und die noch jetzt zahlreiche Käufer findet.

Durch den Doctor und einige politische Freunde, welche er vorsichtig bei mir einführte, erhielt ich Nachricht von den Ereignissen im Süden Deutschlands und von dem Verfahren gegen unsere Freunde in Sachsen. In den ersten Tagen kamen viele Flüchtlinge durch Altenburg, von denen hin und wieder einer von Doctor Rittler verbunden oder auch in der Umgegend versteckt wurde. Er freute sich immer königlich, wenn er einmal wieder Jemand durchgebracht hatte, und erzählte mir wohl auch von Flüchtlingen einer früheren Zeit, denen er selbst mit Geld oder in dessen Ermangelung mit ihm werthen Kleinodien fortgeholfen und von denen er nicht selten mit Undank belohnt worden. Mit Vergnügen erinnerte er sich des General Bem, den er an einer Schußwunde behandelt und dessen ihm geschenkten Siegelring er am Finger trug und noch heute trägt. Als er ihm eine Kugel aus dem Rückgrate zog und ihn bat, ihm diese Kugel zum Andenken zu lassen, erwiderte der General: „Behalten Sie sie, behalten Sie sie; ich werde schon mehr bekommen.“

Um die Polizei von meiner Fährte zu bringen, schrieb ich gleich in den ersten Tagen einen Brief an meine Frau, den ich an ein befreundetes Parlamentsglied in Frankfurt schickte, mit der Bitte, ihn dort auf die Post zu geben. Ich zeigte meiner Frau darin an, daß ich glücklich in Frankfurt angekommen und im Begriff stehe, nach Baden abzureisen, wo mir ein Commando angetragen worden sei. Meine Wunde am rechten Fuße habe nicht viel zu bedeuten. Der Brief wurde natürlich geöffnet, und bald darauf sah ich aus meinem Steckbrief, daß ich am rechten Fuße durch einen Schuß leicht verwundet sei. Jener Steckbrief enthielt zweiundzwanzig der am meisten gravirten Namen, unter denen ich mich nicht zu schämen brauchte, da Männer wie Richard Wagner, Professor Semper, Dr. Köchly, Regierungsrath Todt, Leo von Zichlinski, Marschall von Biberstein etc. darunter waren.

So gut unsere Vorsichtsmaßregeln getroffen waren, so war ich doch weit entfernt, mich vollkommen sicher zu fühlen. Meine Briefe an meine Frau gingen durch die Hände einer vertrauten Freundin aus den hohen aristokratischen Kreisen Dresdens und die ihrigen durch die des Consuls Flügel in Leipzig. Erst später war ich genöthigt, in ersterer Beziehung eine Aenderung eintreten zu lassen, „da die Dame manchmal verreiste“. Wie leicht war es möglich, daß ein Brief in unrechte Hände gerieth, oder eines von den Paketen mit Wäsche und anderen Bedürfnissen, welche an mich geschickt wurden, meinen Aufenthalt entdeckte! Allein nicht nur auf directem, sondern auch auf indirectem Wege drohte mir Gefahr.

Rittler hatte mehrere der Dresdner Flüchtlinge in der Nähe von Altenburg versteckt, die er häufig besuchte. Unter ihnen befand sich auch Todt. Plötzlich erhielt Rittler aus Leipzig Nachricht, daß man Todt in seinem Hause vermuthe und eine Requisition an das Altenburger Stadtgericht kommen werde, um nach ihm zu suchen. Ich drang darauf, daß der Doctor sofort nach Leipzig reiste und nähere Nachrichten einholte. Schon am Abend brachte er diese: Todt hatte an einen seiner Freunde, den geheimen Rath W., geschrieben und ihm eine Rechtfertigungsschrift zugesandt, deren Inhalt er den Freund bat dem Minister mitzutheilen und ihm so eine straffreie Rückkehr anzubahnen. W. übergab die ganze Geschichte dem Minister, und während man Todt längst in Baden oder der Schweiz geglaubt, wußte man nun, daß er sich noch in der Nähe befand, und ergriff sogleich Maßregeln, seiner habhaft zu werden. Eine Haussuchung bei Rittler konnte nun zwar nicht Todt, aber wohl mich zu Tage fördern, weshalb Alles geschehen mußte, um sie zu verhüten, da es kaum möglich war, mich selbst ohne Aufsehen fortzuschaffen.

Mein Entschluß war schnell gefaßt: Ich dictirte meinem Sohne einen Brief in die Feder, durch welchen der Schreiber den Doctor Rittler ersuchte, irgend an ihn kommende Briefe (unter Couvert) an eine bestimmte Adresse in Frankfurt zu schicken, und in welchem er die Hoffnung aussprach, daß ein alter Universitätsfreund ihm gern den erbetenen Dienst leisten werde. Der Brief wurde mit dem Universitäts-Spitznamen des Regierungsraths, „Pascha“, unterzeichnet, mit einem T, das zufällig vorhanden war, versiegelt, adressirt, ein wenig schmutzig gemacht und wieder aufgebrochen.

Mit diesem Briefe ging der Doctor früh am Morgen zum Stadtrichter und theilte ihm mit, daß er erfahren, er werde wegen eines unbedeutenden Gefallens, welchen er dem sächsischen Regierungsrathe Todt gethan, in polizeiliche Ungelegenheit gerathen. Er komme also lieber gleich freiwillig zu ihm, um ihm den Hergang mitzutheilen. Er habe den gegenwärtigen Brief vor Kurzem erhalten und in Folge der an ihn ergangenen Bitte zwei oder drei Briefe nach Frankfurt befördert, und das sei die ganze Verbindung, in welcher er mit Todt gestanden, von dem er nicht wisse, ob er noch in Frankfurt oder weiter gegangen sei. Der Stadtrichter freute sich sehr über die Mittheilung, bat den Doctor, mit nach dem Stadtgericht zu kommen, um sie zu Protokoll zu geben, und entließ den Maleficanten mit freundlichem Dank. Er mußte ja nun sehen, wie Alles zusammenhing, und konnte durch sofortige Beantwortung der Requisition – die allerdings noch im Laufe des Tages ankam – seinen Eifer und seinen Scharfblick beweisen. Wir aber waren sicher vor der Haussuchung, da man, selbst wenn man der Angabe Rittler’s keinen Glauben geschenkt hätte, voraussetzen mußte, daß gewandt, wie er es war, er seinen Todt längst aus dem Hause geschafft haben würde, ehe die Polizei ihren Eintritt daselbst machte. Rittler beeilte sich natürlich hierauf, Todt aus seinem Versteck zu entfernen, und brachte ihn auch glücklich fort nach der Schweiz, wo der Arme bald darauf starb, seine Familie in traurigen Verhältnissen zurücklassend. Es ist bekannt, daß Todt, so wie Heubner, einer der Triumvirn war, welche während der Maitage die provisorische Regierung darstellten. Rittler bemerkte, daß er fortan jedesmal, wenn er eine solche Expedition auf das Land machte, von der Polizei scharf beobachtet wurde, welche er indeß immer zu täuschen wußte.

Mein Bein machte mittlerweile unter den nassen Compressen gute Fortschritte, so daß ich versuchen durfte – wenn die Lust rein war – mit Hülfe von Krücken ein wenig in den Garten zu hinken und dort der so lang entbehrten Sonne zu genießen. Ein oder zwei Mal wäre ich indessen beinahe erwischt worden: das erste Mal von unserer Einquartierung und das andere Mal von der Frau Minister S–b, die nebenan wohnte und manchmal einen nachbarlichen Besuch im Garten machte. Beide Male waren die betreffenden Thüren aus Versehen nicht verschlossen worden.

Um jene Zeit machte mir mein theures Weib die Freude, in Gesellschaft Consul Flügel’s mich zu besuchen. Es war ein Wiedersehen und zugleich ein Abschied, vielleicht ein Abschied für immer; denn ich war fest entschlossen, mich eher zu erdolchen als mich fangen zu lassen, und hatte das Todeswerkzeug deshalb Tag und Nacht zur Hand. Ich will nicht versuchen meine Gefühle zu [156] beschreiben, als wir uns auf meinem Lager in fester Umarmung hielten und Keines ein Wort zu sprechen vermochte. Körperliche Schmerzen und Seelenpein, wie ich sie mehrere Wochen lang ertragen, vermögen auch den stärksten Mann bis in’s Innerste zu erschüttern. – Mit zarter Schonung ließen uns unsere Freunde allein, bis wir uns gesammelt hatten, und nun Eines nach dem Andern herzu kam. Die Freude war tief und innig, aber kurz; denn schon am Abend des nächsten Tages trieb Freund Flügel zur Rückkehr. Leider trübte er mir den schönen Tag durch Täuschung einer Hoffnung, welche mich in den letzten Tagen sehr aufgerichtet. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:

Der Consul hatte einen Secretär, Karl Schmidt, aus Schmölln, welcher mir sehr ergeben war und der mich nicht nur öfters besuchte, sondern auch tagelang die ihm bekannte Umgegend absuchte, wenn etwas Verdächtiges im Winde war. Dieser brave junge Mann wurde eines Tages mit einem Pelzhändler aus Canada (Karl Meyer aus Montreal) bekannt und nachdem er sich überzeugt, daß dieser mit einem englischen Consulatspasse nach England zu reisen im Begriff stand, wo er den Paß nicht weiter brauchte, bat er ihn, ihm den Paß von England zurück zu schicken, da er damit einen Freund des amerikanischen Consuls aus großer Gefahr retten könne. Herr Meyer versprach mit Vergnügen seine Bitte zu erfüllen, und Schmidt zeigte mir bald an, daß der Paß in Dr. Flügel’s Händen sei, der ihn mir selbst mitbringen werde. Er brachte wirklich den Paß mit, welcher mich sicher über die deutsche Grenze gebracht haben würde; er ließ mich ihn sehen; aber ich konnte ihn weder durch Bitten noch durch Vorwürfe bewegen, mir ihn zu lassen, obschon der Paß nicht von ihm ausgegangen, noch er sonst ein Recht darauf hatte, noch auch ein Mensch erfahren konnte, daß er durch ihn in meine Hände gelangt sei. Denn daß ich eher gestorben sein als einen der Betheiligten genannt haben würde, wußte Jeder der mich kannte. Er wollte mir den Paß nachschicken, wenn ich außerhalb der deutschen Grenzen sein würde. Die übergroße Gewissenhaftigkeit, die der Freund zuweilen walten ließ, war es, die ihn vorspiegelte, er könne seine Stelle als Consul verlieren! – Er verlor sie später dennoch, ohne mein Zuthun. An einem andern Orte habe ich bereits erzählt, wie es mir durch persönliche Verwendung in Washington gelang, sie ihm wieder zu verschaffen.

Rittler schlichtete unsern Streit, worin ich, der dem Freunde so tief Verpflichtete, nur mit schwachen Waffen kämpfte, indem er mir sagte, er habe bestimmte Hoffnung bald einen andern Paß für mich zu erhalten. Und so ging der englische Paß, oder mit einem Schlage den bisherigen Mr. Charles Murray in Mr. Charles Meyer verwandeln sollte, wieder nach Leipzig zurück und mit ihm die gute Absicht des menschenfreundlichen Canadiers verloren. Es ist mir immer leid gewesen, ihm meinen Dank nicht einmal persönlich abstatten zu können; doch habe ich während meines langen Aufenthalts in Massachusetts nie Gelegenheit gehabt, einen Ausflug nach Montreal zu machen.

Ein paar Tage nach der Abreise meiner Frau brachte mir Rittler in der That einen königlich sächsischen Reisepaß in blanco, nebst dem vollständig ausgefertigten Passe eines seiner Freunde, der im Begriff war, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern, von derselben Behörde ausgestellt, so daß das Document in bester Form nach meinem Gefallen ausgefüllt werden konnte. Der Beamte, welcher mir den Paß sandte (nicht den ersten, den Rittler von ihm empfangen), kam später in Untersuchung, entkam aber durch die List und Geistesgegenwart seiner Frau aus dem Gefängnisse, indem sie den ihn verfolgenden Polizeidiener in den Keller fallen ließ und ihn da einsperrte, und ließ sich in Amerika nieder. – Es war ein Glück für mich, daß nicht alle demokratische Beamte so ängstlich waren, wie Freund Flügel, sonst hätte ich, trotz aller Liebe und Freundschaft, die mir sonst erzeigt wurde, zu Grunde gehen müssen. Möge der Retter in der Noth, welcher, so viel ich weiß, in Philadelphia lebt, meinen späten Dank auf diesem Wege nicht verschmähen. Ich und meine Familie haben ihn und die Seinen tausendmal gesegnet.

[168] Während Freund Rittler dergestalt für meine Weiterreise sorgte, versahen mich andere Freunde mit den nöthigen Geldmitteln, von denen ich mehr zusammenbrachte, als ich für mich im Augenblicke brauchte. Mein braver Verleger schickte mir nicht allein mehrere hundert Thaler, sondern eröffnete mir auch in Brüssel einen ansehnlichen Credit. Sobald ich im Stande war, mit Hülfe von Krücke und Stock mir fortzuhelfen, drängte es mich zur Reise. Eine innere Stimme sagte mir, daß Gefahr im Verzug war und daß jeder Tag eine Entdeckung herbeiführen könne. Der brave Hofbrauer Ruoff hatte mir seine Equipage versprochen, und der Tag der Abreise war festgesetzt. Am Abend vorher kam er, um mir zu sagen, daß sein Fuhrwerk noch nicht zurück sei und daß er nur ein Pferd zu Hause habe; ich werde wohl noch einen Tag warten müssen. Ich sprach meine Besorgniß aus, daß ein Tag länger mir verderblich werden könne; ich vermöge es nicht, die Ahnung zu unterdrücken, daß die Polizei endlich auf mich aufmerksam geworden, eine Haussuchung vornehmen werde, um zu sehen, wer denn der mysteriöse Engländer, von dem sie doch wohl eine Spur erhalten haben könne, eigentlich sei. Nach einigem Nachdenken sagte er endlich kurz entschlossen: „Nun gut, so will ich Ihnen mein Reitpferd dazu geben, und morgen zu Hause bleiben. Um vier Uhr Morgens soll der Wagen da sein.“ Ich hoffe, der Gedanke an meine Rettung hat dem biedern Mann sein letztes Stündlein, das viel zu früh schlagen sollte, erheitern helfen.

Der Wagen fand uns Alle lange vor vier Uhr bereit. Die gute Doctorin hatte für Frühstück gesorgt, und so sehr es mich [169] forttrieb, that es mir doch sehr weh, von der treuen Freundin, die so viel für mich gethan, Abschied zu nehmen. Der Doctor begleitete mich bis Halle. Noch denselben Nachmittag erschien in seinem Hause die Polizei, leider nicht zum letzten Male; denn er wurde später eingezogen und, nachdem er mehrere Monate im Gefängniß gesessen und fast zu Grunde gerichtet war, ebenfalls gezwungen, mit seiner zahlreichen Familie nach Amerika auszuwandern, wo ich Gelegenheit hatte, ihm einen Theil meiner Schuld zurückzuzahlen. Denn ganz bezahlt man eine solche Schuld im Leben nicht!

Wir fuhren nach Weißenfels zum nächsten Bahnhof. Nach Leipzig durfte ich mich nicht wagen, aus Furcht erkannt zu werden. Unterwegs trafen wir beim Anhalten an einem Dorfwirthshaus den ersten preußischen Gensd’armen. Der elegante Wagen, mit den reichen Pferdegeschirren und dem Kutscher in Livrée, imponirten ihm jedoch so, daß er blos höflich grüßte, was ich auf eine leutselige Weise, wie es große Herren zu thun pflegen, erwiderte.

Doctor Rittler nahm Billets für zweite Classe und sagte, indem er dem von Polizei umstandenen Wagen sich näherte und seine Mütze lüftete: „Wenn’s Ihnen gefällig ist, Herr Baron, ich habe die Billets.“ Worauf ich ein vornehmes: „Gut, lieber Doctor,“ hören ließ und mich anschickte, mit seiner und Albert’s Hülfe den Wagen zu verlassen, um mich in das für uns bestimmte Coupé des Dampfzuges zu begeben. Hier eingerichtet, was mit Hülfe einer Art Brücke von Holz und schwarzer Leinwand, auf die ich mein Bein ausstrecken konnte, geschah, brachte ich meinen Dolch in eine solche Lage, daß ich ihn sofort ergreifen konnte, wenn es nöthig würde.

„So willst Du wirklich?“ fragte Rittler mit Bedeutung.

„Ja, bei Gott, ich will, wenn ich muß. Lebendig sollen sie mich nicht haben.“

Mein Entschluß war gefaßt, und Rittler wußte es. Er hatte einen Brief von mir an meine Frau, in dem ich für den schlimmsten Fall von ihr Abschied nahm und ihr einigen Rath in Betreff ihrer und der Kinder Zukunft ertheilte. Leider gelangte dieser Brief, durch ein Mißverständniß, zu früh an sie, ehe sie Nachricht hatte, daß ich in Sicherheit war, und veranlaßte ihr viel Schmerz und Thränen. Sie hat ihn lange aufbewahrt, bis er endlich, wie fast alle uns theuren Erinnerungszeichen aus jener schweren Zeit, durch das Brandunglück verloren ging, welches uns im Herbst 1865 in Florence betraf.

Ich fürchtete Halle sehr, denn ich hatte gehört, daß die Dresdner Polizei einen Commissar dort aufgestellt habe. Zwar war alles Mögliche geschehen, um mich unkenntlich zu machen. Mein Bart war weg; ich trug keine Brille, hielt mich in einen grauen Ueberrock gehüllt, sehr gebeugt, war bleich und abgemagert, und hatte eine grüne Jagdmütze mit doppeltem breitem Visir auf, welches den obern Theil meines Gesichts verbarg (den unteren hatte Niemand ohne Bart gesehen) und auch die Form des Hinterkopfs verdeckte. Außerdem waren meine kurzgeschnittenen Haare in den letzten Wochen auffallend gebleicht, so daß man, statt eines großen, starken Mannes von vierundvierzig, einen gebrochenen Greis von achtundsechzig Jahren vor sich zu haben glauben mußte. Allein dennoch war das Erkennen möglich, vielleicht durch meinen Sohn, vielleicht sogar durch den treuen Freund, der als Spediteur auf der „unterirdischen Eisenbahn“ bereits eine Art Berühmtheit erhalten hatte, oder, wie einer der militärischen Autoren über die Maiereignisse sich in Bezug auf mich selbst ausdrückte, „berüchtigt“ geworden war.

Nicht ohne düstere Ahnungen ließ ich mich daher von einigen Bahnarbeitern auf einem Stuhle in die Bahnhof-Restauration zu Halle tragen. Doctor Rittler hatte einen leeren Saal für mich ausgesucht, in welchem wir allein Platz nahmen. Er wußte nicht, daß es der Speisesaal war, in welchem wir über zwei Stunden warten mußten und der sich um die Mittagszeit mit Kellnern und Gästen füllte, die zum Theil aus Officieren der Garnison und Beamten, vermuthlich auch Polizeibeamten, bestanden. Wir saßen an einem Tische neben der großen Tafel. Ich wagte nicht die mein Gesicht halb verdeckende Mütze abzunehmen, noch aufzublicken und hielt meine Augen halb geschlossen. Die mir zunächst sitzenden Herren bat ich mit verstellter Stimme um Entschuldigung, indem ich vorschützte, das Licht nicht vertragen zu können. Rittler ließ seinen „Baron“ ein paar Mal fallen, ohne daß ich es verhindern konnte. Wie stimmte der Baron mit meinem Paß zusammen, im Fall mir dieser abverlangt wurde, und welcher auf den Kaufmann Christian Müller (immer wieder C. M.) lautete? Das ewig lange Mittagessen und die unendlichen zwei Stunden gingen indessen vorüber, und der Doctor kam wieder mit seinen Trägern, um mich nach meinem Coupé zu schaffen und endlich mit einem warmen Händedruck von mir Abschied zu nehmen, wobei er mir in’s Ohr raunte, daß im nächsten Coupé der Hofrath Dr. Holscher aus Hannover sitze und sich nöthigenfalls meiner annehmen werde. Er selbst kehrte über Leipzig nach Hause zurück.

Ich hörte, daß einer der Träger ihn fragte, wo denn der alte Herr hinwollte, und wie er ihm antwortete: „In’s Seebad.“

„Der sieht auch nicht aus, als ob er wiederkommen würde,“ sagte der Mann, „er ist gelähmt, wie es scheint.“

„Es ist möglich, daß er nicht wiederkommt,“ erwiderte Rittler.

Noch ein Händedruck, ein „Adieu, Herr Baron, schreiben Sie bald,“ ein „Adieu, lieber Doctor, tausend Dank für all’ Ihre Mühe,“ und fort ging der Zug, ohne daß mir in Halle ein Haar gekrümmt worden. In Magdeburg mußte wieder einige Zeit gewartet werden, ehe der Zug nach Hannover abging. Ich hinkte an Krücke und Stock nach der Restauration; meine Schmerzen waren so heftig, daß mir der Schweiß über das Gesicht herabrann, als ich durch die aufgestellten Gensd’armen und Soldaten Spießruthen lief. In der Restauration trat mir ein großer und starker Herr von etwa fünfundvierzig Jahren im grauen Reitrock entgegen und fragte, ob er mir mit etwas dienen könne. Ich hielt ihn für den Wirth und bat um einen Stuhl und ein Glas Wasser. Er führte mich nach einem Lehnstuhl, welcher im Dunkeln stand, bestellte ein Glas Wasser und bot mir eine Prise aus einer goldenen Dose. Als ich sie annahm und meine Freude darüber ausdrückte, bot er mir die ganze Dose.

„Sie können sie mir ja in Hannover wieder geben,“ fügte er hinzu. Ich lehnte sie dankbar ab.

Ich wußte nun, daß es der Hofrath war, und es gewährte mir einige Erleichterung, außer meinem Knaben, noch eine befreundete Seele um mich zu wissen. Ziemlich spät am Abend kamen wir in Hannover an, wo mich der kräftige Hausknecht des Hotel du Rhin auf dem Rücken nach seinem Gasthaus trug und mich in unserem Zimmer eine Treppe hoch absetzte. Ich ließ Abendbrod nach dem Zimmer kommen, ließ Albert die Thür fest verschließen und mit einigen Möbeln verbarricadiren und schlief, meinen Dolch auf dem Tische neben mir, ziemlich gut, nachdem ich vor dem Einschlafen noch ein paar Mal Umschläge um mein Bein gemacht. Am anderen Morgen schaffte mich Hercules Hausknecht wieder nach dem Bahnhof, und nun ging es ungestört bis Minden, wo das Gepäck untersucht und die Pässe vorgezeigt werden mußten. Ein Viergroschenstück, einem der Bahnhofarbeiter in die Hand gedrückt, gewann mir schnell dessen Neigung. Er führte mich, indem ich einen Theil meines Gewichts auf seiner Schulter ruhen ließ, bei den Gensd’armen vorbei, indem er sie bat, „den armen kranken Herrn nicht aufzuhalten,“ bestellte etwas zu essen und zu trinken für uns und versprach wieder zu kommen, wenn es Zeit wäre „an Bord“ zu gehen. Er hielt Wort und wir saßen in unserem Coupé, jeden Augenblick erwartend, daß es fortgehen werde, als einer der Zollwärter herbeikam und die Nummern meiner Koffer ausrief, welche man mir eingehändigt hatte. Die Koffer waren noch nicht untersucht, und ich sollte nun erst mit den Schlüsseln nach dem Bagagezimmer kommen. Ich zeigte auf meine Krücke und mein Bein und hielt ihm mit der einen Hand die Kofferschlüssel, mit der andern ein abermaliges Viergroschenstück hin, und er war klug genug, einzusehen, daß es für beide Theile am besten wäre, das letztere zu nehmen. Die Untersuchung unterblieb, und wir fuhren ab, um die letzte Nacht auf deutschem Boden, in Köln, zu schlafen.

Am nächsten Tage passirten wir Aachen und die belgische Grenze. Als ich an dem belgischen Löwen vorbeikam, war mir es, als ob mir ein Mühlstein von der Brust genommen wäre. Ja, ich fühlte mich so leicht und froh, daß ich selbst meinen Häschern hätte um den Hals fallen können.

In Verviers wurden die Pässe vorgezeigt und die Koffer untersucht. Weder die bebärmützten Gensd’armen, noch die Zollbeamten hatten etwas gegen Herrn Christian und seinen Sohn einzuwenden, und am Abende landeten wir in Brüssel in dem [170] mir mit Recht empfohlenen Hôtel du Grand Café, wo ich mich unter den Schutz und die Pflege des guten alten Herrn Rosart begab, in der ich wieder über sechs Wochen lang verblieb, anfangs unter meinem angenommenen, gegen das Ende aber unter meinem rechten Namen, wie ich bald erzählen werde.

Die ersten Tage fühlte ich mich sehr einsam in Brüssel; ich versuchte am ersten Sonntage Vormittags nach einer deutschen Buchhandlung zu schicken, welche ganz in der Nähe meiner Wohnung sich befand, und da entdeckte ich denn dem Eigenthümer, welcher mich anfangs für einen Franzosen hielt, meinen wahren Namen. Von ihm erfuhr ich, daß Dr. Köchly in Brüssel sei. Ja, als ich ihm sagte, daß dieser ein Freund von mir, erbot er sich ihn herbeizuholen. Ich bat ihn, mich nicht zu nennen, sondern ihm nur zu sagen, daß ein Freund aus Dresden auf ihn warte. Köchly kam bald, begleitet von seiner liebenswürdigen jungen Frau. Er erkannte mich nicht eher, bis ich zu sprechen anfing. Dann aber fiel er mir um den Hals und rief mit Thränen in den Augen: „Mein Gott, Munde, wie siehst Du aus!“ Ich mochte allerdings nur der Schatten des Recken sein, als welchen er mich an der Spitze unserer Bataillone, oder bei unseren Versammlungen, zu sehen gewohnt war. Die Gegenwart dieses Freundes und seines lieben Weibes war mir ein großer Trost. Wir sahen uns oft und erzählten uns unsere Schicksale, so wie ich auch Manches von anderen Freunden erfuhr.

Bald kamen Empfehlungsbriefe, unter denen zwei von Werth für mich waren: der eine war an den berühmten[WS 1] Polen Joachim Lelewel, der seit siebenzehn Jahren über einer kleinen Kneipe, der Ville de Varsovie, in einer nicht heizbaren Dachkammer wohnte, wo er Schriftstellerei und Kupferstecherei trieb; und der andere an den amerikanischen Gesandten, Herrn Thomas Clemson, den Schwiegersohn des bekannten südstaatlichen Politikers John C. Calhoun.

Lelewel führte ein äußerst eingezogenes Leben, und wenn er ausging, war er stets in eine Blouse gekleidet und hatte den Kopf mit einer gewöhnlichen Arbeitermütze bedeckt. Er grüßte und dankte Niemand auf der Straße und ließ sich mit Keinem in ein Gespräch ein. Obgleich ihn Jedermann kannte, und er der höchsten Achtung bei Allen sich erfreute, so schien ihn doch Niemand zu beachten, und als ich ihn einmal in einem Kaffeehaus traf, wo er die Zeitungen las, und auf ihn zugehen wollte, hielt mich ein brüsseler Freund eifrigst zurück, indem er sagte: „Er spricht mit Niemand hier; Sie würden ihn nur veranlassen, sofort wegzugehen.“ Meine und meiner Frau Besuche nahm er dagegen sehr freundlich an und machte uns sogar die Freude, eines Abends Thee bei uns zu trinken. Fast alle angesehenen Polen, welche durch Brüssel kamen, suchten ihn auf. Alle Versuche, ihn in seiner Armuth zu unterstützen, scheiterten jedoch an seiner republikanischen Einfachheit und Festigkeit. Im Gegentheil behielt er noch manchen Franken für einen armen Flüchtling oder eine brodlose Arbeiterfamilie übrig.

Zwischen Herrn Clemson und mir entspann sich bald ein recht freundliches Vernehmen, was später in Amerika sich zu einem wahrhaft freundschaftlichen gestaltete, das leider durch die unglückliche Rebellion, bei welcher ich entschieden Partei für den Norden nahm, während er sich der curagirten Sclavenhalter-Partei des Südens anschloß, zerrissen wurde. Eines Sonntags Nachmittags, als ich ihn besuchte, bat er mich, Niemand zu sagen, daß wir zusammen bekannt seien. „Ich habe nichts zu befürchten,“ fügte er hinzu; „allein es ist für uns Diplomaten immer unangenehm in den Verdacht zu gerathen, als ob wir uns in die politischen Verhältnisse der europäischen Länder mischten oder bei Auswanderungen behülflich wären. Es erschwert uns unsere Stellung und nützt unseren Schützlingen nichts.“

Auf meine Bemerkung, daß ja Niemand wisse, wer ich eigentlich sei, erwiderte er lebhaft: „Glauben Sie das nicht; ich wette, Sie sind der Polizei längst bekannt, und Sie werden über kurz oder lang den Beweis davon haben. Achten Sie auf das, was ich sage.“

Der Beweis kam schon am andern Morgen. Ich lag noch ruhig im Bette, als gegen sieben Uhr ein starkes Klopfen und ein lautes „Commissaire de police!“ sich an meiner Thür hören ließ.

Auf mein „Entrez!“ öffnete sich denn auch die Thür und besagter „Commissaire“ trat herein, wollte sich aber, als er mich im Bette erblickte, höflichst zurückziehen, um später wieder zu kommen. Ich bat ihn zu bleiben, da mich Krankheit zwinge, den größten Theil meiner Zeit im Bett zuzubringen, und er setzte sich, auf meine Einladung, mit der Bemerkung: „Que c’était seulement pour remplir quelques formalités.“ (Nur um einige Formalitäten zu erfüllen.)

„Eh bien, remplissez-les, Monsieur,“ erwiderte ich ruhig. (Gut, erfüllen Sie dieselben, mein Herr.)

Er kramte einige Papiere aus und begann sein Verhör wie folgt: „Votre nom, Monsieur?“ (Ihr Name, Mein Herr?)

„Mais vouz l’avez dit en entrant, Monsieur.“ (Sie haben ihn ja schon beim Eintritt genannt.)

„Mul-lère donc?“ (Also Müller?)

„Oui, Monsieur.“

„Et votre prénom?“ (Und Ihr Vorname?)

„Chrétien.“ (Christian.)

„Votre âge?“ (Ihr Alter?)

„Cinquante quatre.“ (Vierundfünfzig.)

„Votre état?“ (Ihr Stand?)

„Négociant“ (Kaufmann.)

„D’où venez-vous?“ (Woher kommen Sie?)

„De Crimmitzschau en Saxe“

„Cr – Crr – Crrr – Crrrr– Crrrrr–?“

„Crim– mitzsch – au.“

„Cr – Crr – Crrr – Crrrr– Crrrrr – im – chi –?“

„Crim – mitzsch – au.“

„Ah, je l’ai. (Ach, ich hab’s.) Crimme – chi – ko. Estce là?“ (Ist es das?)

„A-peu-près, Monsieur.“ (Beinahe, mein Herr.)

„Comment l’écrit-on, ce Crimme – chi – koffe?“ (Wie schreibt man dies Crimmschikoff?)

„C – r – i – etc.,“ und nun buchstabirten wir es ihm Beide vor, Albert indem er Mühe hatte, das Lachen zu verbeißen.

„Quelle rue?“ (welche Straße?) fuhr der Commissar fort.

„Ich war in meinem Leben nicht in Crimmitzschau gewesen und kannte nicht eine einzige Gasse desselben. Indeß antwortete ich schnell: „Schmiedegasse,“ da ich einmal in meiner Jugend in der Schmiedegasse zu Pirna gewohnt.

„Quel numéro?“ (Welche Nummer?)

Hier wäre ich bald stecken geblieben, da mir das Lügen doch nicht recht geläufig war. Albert antwortete jedoch schnell: „Zweihundert dreiundsechszig.“

Und so ging es fort, bis er zuletzt aus den Zweck meines Hierseins und auf meine Legitimation zu sprechen kam und ich ihm sagte, ich wolle nur abwarten, bis meine Gesundheit mir gestatte, nach Ostende weiter zu reisen, wo ich die Absicht hätte, das Seebad zu gebrauchen; meinen Paß hätte ich bei meiner Ankunft vorgezeigt und er sei mir zurückgegeben worden; meine Rechnung im Hotel habe ich alle Wochen bezahlt und besitze die Mittel, es ferner zu thun. Der Herr Commissar schien von alle diesem sehr befriedigt, versicherte, daß man sich im Hotel lobend über meine Pünktlichkeit ausgesprochen, und fragte zum Schlusse blos noch, ob ich eine „objection“ hätte, das Protokoll zu unterzeichnen.

Auf mein „Pas la moindre, Monsieur,“ (nicht die geringste) trat er mit dem Papier und einer Feder an mein Bett und reichte mir beides hin, und nachdem ich das Protokoll leichthin überlesen, schrieb ich mit einigen sicheren Zügen mein „Chrétien Müller“ darunter.

Während er meine Unterschrift besah, bemerkte ich, daß mein Sohn, welcher die auf dem Tische offenliegenden Papiere des Commissars überblickt hatte, mir hastig zuwinkte und beide Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Ich war daher nicht sehr überrascht, als der Commissar, indem er mich scharf ansah, langsam und mit Betonung wieder zu fragen anfing:

„N’avez-vous pas encore un autre nom, Monsieur, – Tundé, ou Mundé“ (Haben Sie nicht noch einen andern Namen?)

„Ah, ça,“ rief ich lächelnd, „wissen Sie den auch schon? Warum sagten Sie das nicht gleich? Sie hätten uns die Mühe dieses Protokolls ersparen können. Setzen Sie sich nur wieder hin, et recommençons! Ceci, ce n’est que des bêtises.“ (Fangen wir wieder an; das da ist nur dummes Zeug.)

Nun ging das Verhör von Neuem an:

[171] „Votre nom, Monsieur?“ – „Ch. Munde.“

„Votre âge?“ – „Quarante quatre.“

„Vous avez été compromis dans les troubles de Dresde? Et fortement, Monsieur.“ (Sie sind bei den Dresdener Unruhen stark compromittirt.) Und so fort bis zu der abermaligen Unterzeichnung des Protokolls. Mehr als einmal versicherte er mich bei seinen Fragen, daß ich „en lieu de sûreté“ (an sicherm Orte) wäre, worauf ich stets antwortete, daß mir dies wohl bekannt sei. Nach Beendigung des Protokolles bat er mich leichthin, ihm doch einmal den Paß sehen zu lassen, mit dem ich angekommen. Da ich nicht wußte, ob der Beamte, welcher mir denselben zu senden gewagt, noch in Sachsen war, so verweigerte ich die Gewährung seiner Bitte unter allerhand Vorwänden und erklärte endlich, da er sich nicht zufrieden gab, daß mir der Paß von einem Reisegefährten geliehen worden, welcher ihn am andern Tage wieder abgeholt, um damit nach England zu reisen.

Als er alle Ueberredungskunst vergeblich angewandt und ich auf seine Insinuationen von Aergernissen und Unannehmlichkeiten nur entgegnete: „Mais, Monsieur, je suis en lieu de sûreté,“ (an sicherm Orte) versicherte er mich zuletzt, ich würde ausgewiesen werden, wenn ich den Paß nicht herbeischaffte. Hierauf gab ich meine Absicht zu erkennen, den Polizei-Director Baron von Haudy selbst um eine Aufenthaltskarte zu bitten, bis meine Familie angekommen und wir im Stande wären, uns nach Amerika einzuschiffen, wohin wir auszuwandern beabsichtigten.

Es war wunderbar, welche Wirkung die Nennung dieses Namens auf den armen Commissar hatte. Er war ganz verwundert, daß ich den Muth haben könnte, mit Monsieur l’Aministrateur (de police) zu sprechen. Als er mir endlich Stunde und Ort genannt, wo der Herr Baron zu sprechen sei, drückte er noch sehr verbindlich die Hoffnung aus, daß ich in keiner Hinsicht Ursache haben möge, mich über ihn zu beschweren, worauf ich ihn versicherte, daß er nach meiner Meinung nur seine Pflicht gethan und sich sonst „en parfait gentleman“ gegen mich betragen hätte, worauf er mich mit vielen Höflichkeitsbezeigungen verließ. Wie traurig muß doch eine Existenz sein, die es uns zur Pflicht macht, Andere in steter Furcht zu halten, während man selbst vor Angst seines Lebens nie froh wird! Das ist, nebst vielem Anderen, nicht so in Amerika.

Am nächsten Tage fuhr ich gegen elf Uhr nach dem Ministerium der Justiz und ließ mich bei Herrn von Haudy melden. Er war sehr beschäftigt und ließ mich bitten, ein wenig zu warten. Nach einer Stunde schickte er indeß einen Polizeidiener und ließ um Entschuldigung bitten; er sei zu sehr mit wichtigen Angelegenheiten überhäuft, um mich heute sprechen zu können.

Ich schrieb also einige Zeilen an ihn und ließ sie da. Ich entschuldigte mich, daß ich mich unter fremdem Namen eingeführt. Es sei nicht meine Absicht gewesen, in Brüssel zu bleiben. Ich habe nach dem Bade St. Amand gehen wollen, was mir aber mein Arzt Dr. Semal abgerathen, und so habe ich der Polizei und mir selbst keine unnöthige Mühe machen wollen und sei ganz ruhig unter meinem angenommenen Namen geblieben. Ich bitte blos um Erlaubniß, in Brüssel verweilen zu dürfen, bis meine Familie angekommen. Der Herr Baron könne über meine politischen Ansichten ganz ruhig sein; denn was ich für Pflicht gehalten, in meinem Vaterlande zu thun, würde in meinen Augen als Verrath an der Gastfreundschaft eines fremden Landes angesehen werden müssen, dessen Regierung mir gestattet, unter ihrem Schutze zu wohnen u. s. w.

Drei Tage darauf erhielt ich eine sehr höfliche Einladung, mich im Bureau des Herrn Bourgeois, im Ministerium der Justiz, einzufinden. Herr Bourgeois theilte mir mit, daß er von ‚Monsieur le Ministre‘ den Auftrag erhalten, mir ‚un passeporte provisoire‘ auf vierzehn Tage zu geben. „Est-ce que vous l’acceptez?“ (Nehmen Sie ihn an?)

„Si je ne peux pas l’avoir pour plus long-temps.“ (Wenn ich ihn nicht auf längere Zeit erhalten kann.)

„On vous le prolongera, à moins que la police n’ait cause de se plaindre“ (Man wird ihn Ihnen prolongiren, wenn die Polizei keine Ursache hat, sich über Sie zu beschweren.)

Und so nahm ich denn den provisorischen Paß, oder die Aufenthaltskarte unter meinem richtigen Namen, bezahlte meine zwei Franken dafür, half noch einem anderen armen Teufel, der kein Französisch verstand, ebenfalls zu seinem Passe und ließ den Chrétien Mullère auf der Polizei zurück, um fortan wieder als ehrlicher Dr. Munde zu existiren, als welcher ich denn auch im Hotel, und wo ich mich sonst sehen ließ, von meinen Bekannten begrüßt wurde.

Nur einmal noch rückte mir die Polizei vor’s Quartier. Nach der Ankunft meiner Frau besahen wir uns das Rathhaus, als mein alter Bekannter, der Commissar, auf mich zukam und mir sagte, der Minister lasse ihm keine Ruhe um meinen Müller’schen Paß; ich solle doch die Güte haben, ihm die außerordentliche Gefälligkeit zu erzeigen, ihm den Paß zu geben, der mir doch nichts mehr nützen könne.

Ich bat ihn, am Nachmittag zu mir zu kommen. Der arme Teufel dauerte mich.

Zu Haus angelangt, schnitt ich den Stempel und einen Theil der Druckschrift heraus und verbrannte alles Geschriebene. Und als der Commissar kam, hielt ich ihm eine kleine Rede, die ungefähr folgendermaßen lautete:

„Ich habe, mein Herr, den Paß von einem Freunde erhalten, und Sie begreifen, daß es mir eine heilige Pflicht ist, Alles zu verschweigen, was mit diesem Dienste zusammenhängt; damit der Freund, welcher mich gerettet, nicht in Verlegenheit komme. Daher meine Weigerung, Ihnen den Paß zu zeigen oder einzuhändigen. Um den Herrn Minister zu beruhigen, daß mit dem Passe nicht ein Mißbrauch getrieben werden könne und um Ihnen gefällig zu sein, während ich zugleich meine Pflicht gegen meinen Freund thue, habe ich diese Theile des Passes, welche ich Ihnen hiermit vorzulegen die Ehre habe, herausgeschnitten, das Uebrige aber verbrannt. Sehen Sie hier im Ofen die Asche! – Das ist Alles, was Sie von mir über jenen Paß erfahren können. Und nun bitte ich, lassen Sie mich in Ruhe; denn keine Gewalt der Erde würde etwas Näheres darüber aus mir erpressen.“

Und der Commissar bedankte sich und ging zufrieden hinweg. Ich aber habe fürderhin über die Polizei bis zu diesem Tage nur Liebes und Gutes zu berichten, die mich bei meiner Rückkehr nach siebenzehn Jahren selbst in Dresden mit großer Höflichkeit und Herzlichkeit empfangen hat. – Wie die Brüsseler Polizei erfahren, wer ich sei, darüber habe ich nur Vermuthungen.

Mit welcher Freude mich die Ankunft meiner Frau und meines jüngsten Sohnes erfüllte, bedarf keiner Erwähnung. Die Arme sah aus wie ihr Schatten, so hatte sie sich abgegrämt, abgesorgt, abgearbeitet und – ich darf es wohl hinzusetzen, da es mir selbst nicht anders ging – abgesehnt.

Ich war ihr mehrmals vergebens am Abende bis zum Bahnhof entgegen gegangen und immer traurig und getäuscht zurückgekehrt. Endlich überraschte sie mich am frühen Morgen, als ich noch im Bette lag. Sie war die Nacht gereist, um nicht noch einen Tag zu verlieren. Es war eben ihr Geburtstag, dessen ganze Feier in unserer Wiedervereinigung bestand. – Der erste nach unserer Rückkehr nach Deutschland wurde feierlicher begangen: wir hatten das interessante Schauspiel der Beschießung von Würzburg!

Es war ursprünglich meine Absicht gewesen, mich in England niederzulassen, und dahin lautete auch der Paß meiner Frau. Ein Zufall machte mich jedoch mit dem Inspècteur général de l’Université de Bruxelles, Herrn van Hasselt, bekannt, der mir, nachdem wir uns einige Male über Erziehung und Lehrmethoden unterhalten, eine Professur an der Universität Lüttich anbot. Meine Freunde widerriethen mir, sie anzunehmen. Die Erziehungsanstalten ständen alle unter dem Einflusse der Jesuiten, und diese würden nicht ruhen, bis sie die Protestanten wieder ausgebissen hätten. Clemson machte meinem Zweifel ein Ende.

„Nonsense,“ sagte er, „auch nur daran zu denken, in einem Lande zu bleiben, wo immer Einer dem Andern das Brod aus dem Munde reißt. Gehen Sie nach Amerika, wo an Allem Ueberfluß ist. Ich will an meinen Schwiegervater schreiben, und Sie sollen keinen Mangel leiden.“

Und so schifften wir uns denn am 20. August in Antwerpen auf der Schelde ein, und landeten am letzten September am Fuße von Fultonstreet in New-York, um in der Neuen Welt das Leben von Neuem anzufangen.


  1. Nicht um alte Wunden wieder aufzureißen, sondern lediglich um der vielen Freunde willen, die Munde durch seine Schriften wie durch sein Wirken diesseit und jenseit des Oceans gefunden, theilen wir die obenstehende interessante Episode aus dessen bewegtem Leben mit, aus deren ganzer Darstellung erhellt, daß dem Verfasser jede Parteigehässigkeit fern liegt.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: berühmen