In einem Genfer Landhause
Ich hatte Karl Vogt seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen. Während dieser Zeit hatte ich die halbe Welt durchwandert und von allen Gütern, die seitdem mit der fliehenden Jugend mir abhanden gekommen, vermißte ich am schmerzlichsten jetzt den alten, guten Humor. Um diesen aufzufrischen und mich zugleich an der Geistesgesundheit eines tüchtigen, ganzen Menschen zu erquicken, wußte ich kein besseres Mittel, als den ehemaligen Reichsregenten in seiner Einsiedelei aufzusuchen. Unbeirrt von dem politischen Hader, der ihn umtobte, sah ich ihn gleichsam über den Dingen stehend, heiteren Gemüths auf das Gewimmel unter sich herabschauend, und wenn ihm der Lärm gar zu toll wurde, manchmal von seiner Alpenhöhe eine Rakete in die wirre Masse hineinfeuernd, daß es blitzte und zündete. –
Eine halbe Stunde von Genf, wo die Arve ihre grauen Gletscherwasser der dunkelblauen Rhone zuführt, traf ich den deutschen Gelehrten in einem bescheidenen, aber traulichen Gartenhause. Als ich an der Gitterthür läutete, sprang mir ein mächtiger St. Bernhardshund laut bellend entgegen. Ich wurde dabei unwillkürlich an das Temperament seines Herrn gemahnt, denn gleich diesem meinte er es lange nicht so böse, als er sich anstellte. Drei muntere Knaben, die im Garten beschäftigt waren, geboten dem Hunde Ruhe, der sich jetzt schweifwedelnd einer Dame zuwandte, welche mir öffnete und auf meine Frage nach dem „Herrn Professor“ mir mit freundlichem Ausdruck antwortete: „Ich will Sie zu meinem Manne führen.“
Dieser jedoch schien mich vom Fenster aus schon bemerkt zu haben und kam mir mit seinem alten Lachen entgegen, einem Lachen, das ihm ganz allein und eigenthümlich angehört und das sich seit zwanzig Jahren nicht um einen Laut verändert hatte: „Grüß Gott, Hans! Direct aus Senegambien? Buben, kommt her, das ist der Gletschermann, von dem ich Euch erzählt habe. Aber wir wollen nicht draußen bleiben, kommt nur Alle herein!“
Wir folgten ihm in’s Studirzimmer. Es war dies ein kleiner, mit vielen Büchern und wenigen Möbeln einfach ausgestatteter Raum, zu dem man durch ein Vorzimmer gelangte, welches den größeren Theil der Bibliothek und die Sammlungen des Naturforschers beherbergte. Das Studirzimmer war durch zwei Fenster erleuchtet, von denen das eine die Aussicht auf den Jura und die rauschende Arve gestattete, das andere mit einer Art Gartenpavillon in Verbindung stand, der jetzt, es war im beginnenden Winter, geschlossen war. Zu genialer Unordnung bot das kleine Zimmer entschieden keinen Raum. Ein gutes Landschaftsbild, die Copie eines Ruysdael, und einige Portraits zogen den Blick von einer langen Schädelreihe und Hirnabgüssen ab, welche zunächst in die Augen fielen.
Die Frau Professor und die Kinder, zu denen sich jetzt auch ein schwarzäugiges Mädchen gesellt hatte, welche ihres Vaters Liebkosungen als eine gewohnte Auszeichnung vor den minder schmeichelhaft behandelten Buben hinnahm, schauten forschend zu dem „Gletschermann“ empor, der ihnen als ein lebendig gewordener Mythus erscheinen mochte. Mich hatte diese Bezeichnung an meine erste Begegnung mit Vogt erinnert, welche auf dem Unteraargletscher stattfand, als er mit Agassiz, Desor u. A. die unaufhaltsame Bewegung des gefrorenen Stromes nachwies.
„Sie haben seit unserer Trennung keine Noth gelitten,“ sagte ich mit einer unverkennbaren Hinweisung auf seinen imposanten Umfang.
„Das war, wie Sie wissen, niemals bei mir zu befürchten, und sollte es jemals dazu kommen, so hielte ich es sicher mit dem weisen Spruche: ‚Noth kennt kein Gebot.‘“
„Davon haben wir auf dem Aargletscher den Beweis erlebt. Denken Sie sich, Frau Professor, als ich damals das Vergnügen hatte, mich Ihrem Gemahl als einen Collegen vorzustellen, der augenblicklich von dem einzigen Wunsche erfüllt sei, seinen Hunger stillen zu können, wurde ich nur schrecklich ausgelacht und Desor behauptete, Freund Vogt habe über Nacht, während sie Alle ahnungslos schliefen, den letzten Proviant bis auf einen kleinen Wurstzipfel aufgegessen.“
„Marianne, sollte diese ehrenrührige Geschichte nicht vielmehr eine Anspielung des Gletschermannes auf seinen gegenwärtigen Hunger sein?“ wandte Vogt sich lachend an seine Frau.
„O, durchaus nicht. Bitte, bleiben Sie, Frau Professor!
[149]Mich führt heute ein viel ideelleres Motiv zu Ihrem Manne, ich möchte nämlich zu ihm in die Lehre gehen.“
„Und was wollen Sie denn lernen, lieber Freund? haben Sie die halbe Welt durchwandert und kommen wissenshungrig heim? Sie sollten uns jetzt sehr viel erzählen.“
„Ich möchte von Ihnen lernen, wie man es anstellen muß, um sich bei allem Wandel der Lebensschicksale ein stets heiteres Gemüth zu bewahren. Sie sind, weiß Gott, noch immer der fröhlichste Mensch, dem man zwischen den Polen begegnen kann, und es scheint wahrlich nicht, daß Sie je den Trauerflor um die verlorne Reichsregentschaft angelegt haben.“
„Ich habe ihr keine Thräne nachgeweint. Damit will ich [150] durchaus nicht sagen, daß jeder Hänfling, der über unser erstes Parlament die Achsel zuckt, darum ein Adler geworden. Uebrigens habe ich mich durch Arbeit frisch erhalten.“
„Das Schicksal, als Emigrant von Hoffnungspolitik zu zehren,“ fügte ich hinzu, „und sich allmählich dabei aufzuzehren, war für einen Mann der Wissenschaft überhaupt nicht zu befürchten. Wenn auch von Ihren persönlichen Erlebnissen seit unserer letzten Zusammenkunft gar wenig zu mir gedrungen ist, so habe ich doch manche Ihrer Arbeiten studiren können, und ich habe mich überzeugt, daß Sie nicht müßig gewesen und seitdem manchen Strauß ausgekämpft haben.“
„Das Kämpfen scheint überhaupt meiner Natur angemessen,“ erwiderte Vogt. „Sie erinnern sich vielleicht meines ersten wissenschaftlichen Straußes mit Leopold von Buch[WS 1]?“
„Davon habe ich nie etwas gehört.“
„Dann will sich Ihnen die Geschichte erzählen, denn sie war nicht ohne Einfluß auf meine späteren Lebensschickale. „Schon im Jahre 1840 hatte mich Agassiz zu einer naturforschenden Versammlung nach Erlangen geschickt, um dort die neue Gletschertheorie und die damit zusammenhängende Erklärung der erratischen Blöcke vorzutragen. Der alte Buch, dessen Verdienste um die Wissenschaft ich gewiß zu keiner Zeit verkannt habe, hatte unglücklicherweise in seiner Jugend über jenes Problem eine Meinung ausgesprochen, die heutzutage höchstens noch ein historisches Interesse hat. Er war schwach genug, mir deshalb wie ein grollender Löwe zu begegnen. Im Garten beim Kaffeetrinken griff er mich leidenschaftlich an, machte dann anderen Tages Frieden und sagte mir Abends auf dem Heimweg: ‚Ich gehe jetzt in’s Theater und Sie gehen nach Hause, um sich auf das dumme Zeug vorzubereiten, das Sie uns morgen vortragen wollen.‘ Am nächsten Tage erhielt ich denn das Wort und ging wohlgemuth an meine Predigt. Buch setzte sich mir dicht gegenüber, seinen dicken Stock mit beiden Händen zwischen den Knieen haltend und das Kinn auf den Knopf des spanischen Rohrs gestützt, schaute er herausfordernd zu mir auf und begleitete meine Rede mit Murren und Knurren. Wir kamen indessen in Erlangen noch friedlich genug auseinander. Unangenehmer wurde die Begegnung zwei Jahre später, als ich mit reicheren Resultaten unserer Gletscherforschungen an die naturforschende Versammlung nach Mainz kam. Leopold von Buch hatte in seinem gereizten Gelehrtenstolz etwas von Gelbschnäbeln fallen lassen, die noch nicht trocken hinter den Ohren seien; er suchte mein Auftreten in der Section zu verhindern. Ich setzte es aber bei dem Präsidenten durch, daß die Reihe der eingeschriebenen Redner auch für mich eingehalten wurde; ich hatte widrigenfalls mit Lärm in der allgemeinen Sitzung gedroht. Man rief mich dann zu rechter Zeit auf die Tribüne. Ich aber ärgere mich über den Alten und glücklich am Ende meines Vortrags angelangt, schließe ich in jugendlichem Eifer mit den Worten: ‚Das Lied der Wahrheit dringt doch durch, ob es von grauen oder gelben Schnäbeln gesungen wird!‘ Sie können sich das Aufsehen denken, welches eine solche Abwehr in der Versammlung hervorrief.“
„Inwiefern hatte aber diese Begegnung einen Einfluß auf Ihre späteren Schicksale?“ fragte ich den Erzähler.
„Ich müßte vielleicht etwas weit ausholen, um Ihnen dies zu erzählen.“
„O, thun Sie es nur, denn ich möchte von Ihnen doch ein wenig mehr als Ihre Schriften kennen.“
„Sie wissen, daß ich als Student drei Jahre in Liebig’s Laboratorium in Gießen gearbeitet habe. Es war von 1833 bis 1835. Liebig hatte stets viel Wohlwollen für mich gehabt und mich auch nicht aus den Augen verloren, als ich später mit Desor bei Agassiz in Neuchâtel an dessen großem Werke über die Anatomie der Süßwasserfische arbeitete und mich an den Untersuchungen über die Gletscherbewegung betheiligte. Agassiz wollte mich nach Amerika mitnehmen; ich schlug den Antrag aus, denn die Yankees haben nie zu meinen Liebhabereien gehört. Ich hatte als Doctor der Medicin regelrecht promovirt, ich hätte mich irgendwo als Heilkünstler niederlassen können, doch ist die Medicin mir stets ein Gräuel gewesen. So zog ich es denn 1844 vor, nach Paris zu gehen und mich dort mit meinen Lieblingsstudien zu beschäftigen. Ich arbeitete im Pflanzengarten, schrieb für die Allgemeine Zeitung Correspondenzen über die Sitzungen der Akademie, begann mein Lehrbuch der Geologie und veröffentlichte bei Cotta meine physiologischen Briefe, die ursprünglich für die Beilage der Allgemeinen Zeitung bestimmt waren und jetzt in dritter Auflage erschienen sind. Im nächsten Winter ging ich nach Nizza. Dort entstand mein Buch ‚Ocean und Mittelmeer‘, von dort aus erhielt ich auf Liebig’s Veranlassung einen Ruf als Professor der Zoologie an die Gießener Universität.“
„Und waren gegen diese Berufung nicht vielfache Bedenken von der Regierung des Großherzogthums Hessen erhoben worden? Ihr Vater war ja lange genug in der Opposition gewesen, bis er sich endlich gezwungen sah, eine Professur an der Berner Hochschule anzunehmen.“
„Und meine Mutter ist eine geborene Follen,“ fügte Vogt hinzu; „so konnte der Sohn freilich nicht auf besondere Gönnerschaft in den regierenden Kreisen zählen. Der Cultusminister Linde wollte auch um keinen Preis meine Ernennung zugeben und begründete seine Weigerung mit der Bemerkung, ich habe mich vor einigen Jahren so unehrerbietig gegen Herrn Leopold von Buch benommen, daß meine Berufung an die Gießener Universität einer Beleidigung jenes Veteranen der Wissenschaft gleichkäme. Der alte Buch aber, als er von dieser Aeußerung des Ministers etwas erfuhr, schrieb diesem einen so entsetzlich derben Brief und verbat sich so ausdrücklich, daß ein hessen-darmstädtischer Cultusminister sich in seine Privatangelegenheiten mische und sie zum Vorwande seiner politischen Maßregeln nehme, daß meine Berufung endlich erfolgte. Indessen hatte ich mir vorgenommen, erst mit dem Beginn des Sommersemesters nach Gießen zu gehen, um dort sogleich nach meiner Ankunft meine Vorlesungen zu beginnen. Den Winter brachte ich in Paris zu. In Gießen hatten die Herren indessen volle Zeit, sich auf das wichtige Ereigniß meines Amtsantritts vorzubereiten. Und wichtig genug war dies Ereigniß, das mögen Sie mir glauben, denn es hatte sich ein unheimliches Gerücht über meine Persönlichkeit verbreitet, ein Gerücht, das die alten Häupter unter meinen zukünftigen Collegen mit Schauder und Grauen erfüllte.“
„Sie erschrecken mich. Hoffentlich wird es keine Criminalgeschichte,“ fiel ich ein.
„In Heidelberg giebt es ein Institut für Zeitungsleser, welches man das ‚Museum‘ nennt, „fuhr Vogt fort. „Dort sitzen an dem einen Tisch die Geheimen Räthe, an dem andern die Geheimen und simplen Hofräthe, am dritten die außerordentlichen Professoren, am vierten die bescheidenen Docenten, und wehe dem Unglücklichen, der es damals wagte, die geheiligte Rangordnung zu verletzen und sich an einem Tisch niederzulassen, der ihm nicht zukam! Im Museum zu Heidelberg war ich im Sommer 1846 auf einer Durchreise gewesen und von dort aus hatte sich das finstre Gerüchte verbreitet, Karl Vogt, der eben nach Gießen berufene Professor, trage – einen Schnurrbart!! Ich trug damals meinen Bart wie heute noch, und Sie sehen wohl, die Natur hat mich in diesem Falle nicht mit außergewöhnlicher Fülle beschenkt. Mein Schnurrbart aber war unter den Posaunenklängen der Fama, bis diese nach Gießen drangen, zu einer entsetzlichen Länge gewachsen. Ja, es hieß, das sei ein Schnurrbart, wie noch kein Sterblicher ihn gesehen, ich könne ihn dreist um den Kopf wickeln und hinten zusammenbinden. Wird er mit dem Schnurrbart auf’s Katheder treten, wird er ihn vorher abrasiren lassen? Diese Frage beschäftigte die gesammte Gelehrtenwelt Gießens während der langen Wintermonate. Wetten wurden eingegangen, von den Alten gegen, von den Jungen für den Schnurrbart. Die Letzteren geriethen in Sorge um ihre Finanzen, sie schrieben mir lamentable Briefe nach Paris, ich solle sie doch um Gotteswillen vor dein Bankerott retten und ja nicht ohne Schnurrbart auf’s Katheder treten. Die Lage wurde schwierig, ich durfte meine jungen Freunde nicht in’s Verderben bringen, mein Schnurrbart mußte vor allen administrativen Gefahren, die ihm von Rector und Senat drohten, geschützt werden. In der äußersten Noth kam mir Erleuchtung. Als ein loyaler Professor hielt ich es für geboten, vor meinem Amtsantritt den regierenden Herrschaften in Darmstadt meine Aufwartung zu machen. Ich fuhr in dem neuesten Frack und in dem vollen Schmuck meines Bartes zum Großherzog, dann zum Erbgroßherzog. Bei Letzterem wurde ich angenommen. Seine Hoheit unterhielten sich mit mir über schweizerische Verhältnisse und die Audienz währte so lange, daß der dienstthuende Adjutant, als ich endlich wieder in’s Vorzimmer trat, sich mit der tiefsten Ehrerbietung von mir verabschiedete. Der [151] Herr Rector magnificus, dem ich darauf einen Tag vor meiner ersten Vorlesung den Antrittsbesuch machte, empfing mich mit sichtbarer Betroffenheit. Sein Gesicht legte sich in die ernstesten Falten. ‚Also doch!‘ lese ich in seinen Blicken, die wie erschrocken an meinem Barte hängen bleiben – aber ich schneide ihm noch zu rechter Zeit das Wort ab und erzähle ihm, wie ich ohne vorgängige Inanspruchnahme eines Barbiers mich sämmtlichen hohen und höchsten Herrschaften in Darmstadt vorgestellt und Gnade bei ihnen gefunden. Ein besseres Argument für die Unbescholtenheit eines so gefürchteten Schnurrbarts konnte es freilich nicht geben; die Jungen hatten ihre Wette gewonnen und die Alten mußten zahlen.“
„Nun Sie einmal so gut im Zuge sind, fahren Sie auch in der Erzählung Ihrer Schicksale fort,“ bat ich. „Ich weiß, Sie sind nicht lange Professor gewesen, als die Märzrevolution losbrach und Sie in die politische Laufbahn führte. Wie sind Sie nur in’s Vorparlament gekommen, da Sie nie vorher einer Landesvertretung angehört haben?“
„Die Vertretung der Stadt Gießen muß wohl für eine erbliche Würde in der Vogt’schen Familie gegolten haben,“ erwiderte er. „Mein Vater war lange Jahre zum Abgeordneten von Gießen gewählt worden, ohne indessen in die Kammer treten zu können, da die Regierung ihm regelmäßig den Urlaub verweigerte.“
„Das waren herrliche Zeiten!“
„Sind nicht viel besser geworden,“ meinte er. „Sie werden indessen kaum errathen, wessen Bemühungen ich meinen Sitz im Vorparlament verdankte. Herr von Sybel, der Geschichtsschreiber des Revolutions-Zeitalters, der später die großen Gestalten des Convents als Lindenmüller und Wühlhuber dargestellt hat, derselbe brachte mich in’s Vorparlament. Mein erstes Auftreten in Frankfurt schien den hohen Herrschaften, denen ich ein Jahr vorher meinen officiellen Besuch gemacht, nicht sehr behagt zu haben, denn als es zu den Parlamentswahlen kam, wurde der Gießener Wahlkreis so auseinander gezerrt, daß ich bis in’s Hinterland reisen mußte, um mich den Wählern vorzustellen. Freund Rahl aus Wien begleitete mich auf dieser Fahrt und hielt den hessischen Bauern vortreffliche Reden und in so vollendetem österreichischem Dialekt, daß sie ihn mit keinem Wort verstanden. Aber das war nur um so besser, denn die Bauern äußerten sich nachher: ‚An dem Vogt muß doch verdammt viel sein, daß die Leute von so weit herkommen, um für ihn zu reden.‘ Sie werden nicht erwarten, daß ich Ihnen jetzt meinen Antheil an den Ereignissen jener Zeit schildre. Ich war vielleicht eher im Exil, als ich es anfangs nach der Höhe der Volksbewegung annehmen mochte.“
„Haben Sie nicht auch an den kriegerischen Operationen theilgenommen?“ frug ich.
„Wenn ich nicht irre, war ich einen Augenblick unberittener Commandant der Gießener Cavalerie. Die Ursache einer solchen Auszeichnung ist mir bis heute fremd geblieben. Lachen Sie nur! Ich lasse mir jene Zeit nicht verkleinern. Es wurde mit Begeisterung gestritten und diese Begeisterung hat mehr denn ein braver Bursche mit seinem Leben bezahlt. Das sollte so mancher überweise Herr nicht vergessen, denn Blut ist ein ganz besonderer Saft‘; einmal für eine Sache geflossen, giebt es ihr eine unvertilgbare Weihe. Aus solchen Niederlagen erstehen dem Volk seine Siege.“
„Uebrigens hat ein Mann der Wissenschaft,“ fügte ich hinzu, „dies vor dem absoluten Politiker voraus, daß er seine Wehr nur vertauscht, nie abzustellen braucht. Und aus dem, was mir auf meinen Reisen von Ihren Arbeiten zu Gesicht gekommen, darf ich wohl den Schluß ziehen, daß Sie als Naturforscher Ihren ehemaligen Gegnern nachhaltiger wehe gethan und der Sache des Volkes bleibender genützt als so mancher glänzender Kammerredner, auf dessen feurigste Ergüsse hin, selbst in den aufgeregtesten letzten Jahren, kein einziger Minister, vom größten bis zum kleinsten deutschen Staate herab, nur sein Portefeuille, geschweige etwas Anderes verloren hat.“
„Das müssen Sie mit dem deutschen Volke ausmachen, das an politischer Initiative seit 48 eher ärmer als reicher geworden,“ sprach er. „Dagegen ist es seit jener Zeit von einer wahren Bildungswuth befallen worden, und die starre Büchergelahrtheit von ehemals konnte bald den wachsenden Ansprüchen auf populäre Darstellung nicht mehr genügen, aber es traten täglich frische Kräfte in den Vordergrund. Durch diesen Heißhunger nach Belehrung ward der Wissenschaft ein weites Arbeitsfeld eröffnet und ich darf es mir wohl als ein Verdienst anrechnen, daß ich mit einem beträchtlichen Theil meiner seitherigen Schriften auf einen größeren Kreis von Lesern gewirkt habe, als dies der althergebrachte dürre Ton eines Fachgelehrten ermöglicht hätte. In den ersten Jahren meines Exils in der Schweiz schrieb ich die ‚Thierstaaten‘ und begann ich die ‚zoologischen Briefe‘, zu deren weiterer Ausführung ich Nizza wieder aufsuchte. Dort erhielt ich 1852 einen Ruf als Professor an die Genfer Akademie, und wenn ich mich auch damals speciell meinen Untersuchungen über die Seethiere widmete, so entstand doch Manches, was in das große Publicum gedrungen ist; so auch das Buch, welches unter dem Titel ‚Köhlerglaube und Wissenschaft‘ so viele Philister und Narren gründlich geärgert hat.“
„Nun haben Sie auch in der Schweiz eine politische Stellung eingenommen. Es ist mir dies um so auffallender, als die Schweizer sich nur schwer dazu entschließen, Ausländer zu ihren eigenen Angelegenheiten heranzuziehen. Und sie scheinen mir darin nicht Unrecht zu haben.“
„Zugegeben! Und die Ausländer, die sich in schweizerische Politik gemischt, haben selten Seide dabei gesponnen. Mit mir indessen stand die Sache anders. Ich war durch meine nächsten Familienbeziehungen so eng mit der Schweiz verbunden, daß ich gewiß nicht als ein Fremder betrachtet werden konnte. Es wird auch keinem Berner in den Sinn kommen, meine Brüder, mit denen er auf der Schulbank gesessen, nicht als seine Landsleute anzusehen. Zu meiner Betheiligung an der Politik bedurfte es deshalb keines besondern Anstoßes, ich hatte die zahlreichsten Anknüpfungspunkte in den eidgenössischen Räthen; die Häupter der radicalen Partei, Stämpfli, Niggeler, Karrer, waren meine Studiengenossen gewesen, mit Fazy war ich schon 1846 auf meiner ersten Reise nach Nizza bekannt geworden.“
„Und so wurde der ehemalige deutsche Reichsregent Mitglied des Großen Rathes der Republik Genf und Vertreter derselben im Ständerath,“ ergänzte ich.
„Was wiederum einige Philister und Narren bitter geärgert hat,“ entgegnete er. „Ich gab indessen, nachdem mir das Mandat vier Mal anvertraut worden, meine Demission als Mitglied des Ständerathes. Die Nordfahrt mit meinem leider so früh verstorbenen Freunde Berna aus Frankfurt war mir lockender als der Rathssaal, um so mehr, als ich an der vom Prinzen Napoleon nach den arktischen Gegenden unternommenen Reise wegen einer schweren Krankheit nicht hatte theilnehmen können.“
„Wäre die Frage wohl indiscret, wie Sie zu der Ehre gekommen, vom Prinzen zu dieser Reise eingeladen zu werden?“ frug ich.
„Das darf man fragen und wissen,“ gab er zur Antwort. „Wenn ein Prinz mit einem Naturforscher verkehrt, trotzdem dieser ein Republikaner ist, so darf auch ein Republikaner mit einem geistvollen Menschen verkehren, trotzdem dieser ein Prinz ist. Uebrigens habe ich des Prinzen persönliche Bekanntschaft erst nach seiner Nordfahrt gemacht, als ich ihm wie selbstverständlich meinen Dank für seine Einladung abstattete. Diese selbst war auf Veranlassung meines englischen Freundes Charles Edmond geschehen, den ich in Nizza kennen gelernt, als ich eben Seethiere studirte, und der mich dieser Specialität wegen dem Prinzen zum Reisegefährten vorschlug. Doch ich sehe, Ihre Augen heften sich fragend auf jene Reihe von Hirnabgüssen.“
„Was sollen nur alle diese Kindsköpfe?“ lautete meine Frage.
„Kindsköpfe in gewissem Sinne, doch viel weniger als dies, wenngleich ihre Träger nicht gar weit vom Schwabenalter entfernt waren. Dies sind lauter Hirnabgüsse von Mikrocephalen. Wenn Sie sich mit meinen neuesten Arbeiten vertraut machen wollen, so müssen Sie meine Vorlesungen über den Menschen lesen.“
„Ich habe sie in englischer Uebersetzung gelesen und hoffe sie nun zu hören, denn wenn ich recht unterrichtet bin, werden Sie in diesem Winter in Paris einen Cyclus von Vorlesungen über denselben Gegenstand halten.“
„Nicht nur in Paris, sondern auch in Bremen, Darmstadt, Mannheim und Nürnberg. Auch andere Städte haben bei mir angefragt, doch muß ich sie auf nächsten Winter zurückstellen.“
„Diese Art von Wandervorträgen,“ bemerkte ich, „sind in Amerika entstanden und wohl auch dort zur weitesten Ausbildung gelangt. Ganz unberechenbar ist der Einfluß, den sie dort auf die allgemeine Volksbildung ausgeübt, und ein großer Theil der geistigen Cultur, der wir in allen Schichten des amerikanischen Volkes begegnen, ist eine Frucht jener Vorträge.“
[152] „Nun denn, wir wollen uns von den Amerikanern nicht überholen lassen. Aber nicht nur das Publicum gewinnt, indem es sich so auf die bequemste Weise mit den Fortschritten der Wissenschaft vertraut machen kann; diese Wandervorträge sind zugleich von außerordentlicher Anregung auf den Vortragenden selbst und es ist überhaupt gut, daß Jeder der Apostel seiner eigenen Ideen werde und durch die größere Verbreitung derselben auch einen weiteren Kreis von Menschen für die Wissenschaft gewinne.“
Die Frau Professor hatte sich während unserer Unterhaltung entfernt und trat eben wieder ein, um uns zum Thee zu bitten. Wir folgten ihr in’s Speisezimmer und hier entspann sich die lebendigste Unterhaltung, die mir von Neuem Gelegenheit bot, in Vogt nicht blos den scharfen geistreichen Kopf, sondern den gemüthswarmen Menschen kennen zu lernen. Denn sehr Unrecht haben seine Feinde, wenn sie ihm das Gemüth absprechen wollen, vortrefflich aber charakterisirt ihn der jetzt als Flüchtling in New-York lebende H. J. A. Körner, wenn er in seinen „Lebenskämpfen aus der alten und neuen Welt“[WS 2], seiner Beziehungen zu Vogt gedenkend, von dessen ausgeprägtem Humanitätsinstinct spricht.
„Meine Wahrnehmung dieses seines Humanitätsinstinctes erklärte es mir zuletzt,“ sagt er, „wie Karl Vogt, dieser zeitgeizige und Alles bekrittelnde Mann, mehrere Tage bis in die Nacht hinein an einem Weihnachtsbaum für die Kinder seiner Geschwister arbeiten konnte und dabei selbst meine Kinder nicht vergaß, wie er fähig war Mühe und Zeit zu verwenden, den Flüchtlingen auf dem Kornhause Vorträge zu halten und anderweitig für Alle, und für manche Einzelne noch besonders, ‚Mittel des Lebensunterhaltes‘ herbei zu schaffen und endlich später eine zwar schöne, aber doch sehr einfache und nicht eben reiche ‚Berner Oberländerin‘ zu heirathen, sie zart und liebevoll zu behandeln und sich mit seinen Kindern gleich dem zärtlichst fühlenden Vater herum zu tummeln.“
Das beweist denn doch wohl, daß Vogt nicht blos der ewig schlagfertige und kampflustige Verstandesmensch ist.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Leopold von Buch, geb. 26. April 1774 auf Schloß Stolpe bei Angermünde in der Uckermark, † 4. März 1853 in Berlin
- ↑ Herm. Joseph Aloys Körner, Leipzig und Zürich 1865.