Mahnungen aus den Hochalpen
Mahnungen aus den Hochalpen.
Es sind nunmehr nahezu zwanzig Jahre verflossen, daß sich der berühmte Chemiker Justus von Liebig an einem herrlichen Sommermorgen zu Höhlenstein befand, dort am Zugange zum Ampezzaner Thal, von welchem damals in der weiten Welt noch wenig gesprochen wurde. Um den Gelehrten hatte sich eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Alle schauten nach dem glänzenden Eisfelde des Monte Cristallo, und die Worte, welche der große Kenner der Natur zeitweilig fallen ließ, klangen an dieser Stätte wie eine Bergpredigt. Neben dem Monte Cristallo fiel am meisten die rhombische Säule des Piz Popena in die Augen, ein ungeheures Prisma, an dessen Steilwänden sich nur an sehr wenigen Stellen ein wenig Schnee oder Eis zu halten vermochte. Es war die Rede davon gewesen, daß vor wenigen Tagen ein unternehmender Tourist aus Wien einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, den höchsten Zacken der obersten Randecke dieses furchtbaren Berges zu erreichen.
Ich schalte hier nochmals die Bemerkung ein, daß fast zwei Jahrzehnte seit jenem Tage verflossen sind. Damals hatte noch kein menschlicher Fuß sene Höhe erreicht, heut zu Tage ist sie schon von Frauen betreten worden.
„Ich möchte doch eigentlich wissen, was ein Mensch dort oben zu suchen hat,“ sagte ein behäbiger Herr der Gesellschaft, [674] indem er von seiner Cigarre einen bläulichen Rauch in die Höhe blies.
Manche hätten vielleicht hierauf sofort etwas zu erwiedern gehabt. Sie schwiegen aber, weil sie dem Worte des Gelehrten nicht vorgreifen wollten. Als dieser sah, daß Niemand antwortete, sagte er lächelnd:
„Ich könnte mir verschiedene Dinge denken, über die man an einem solchen Orte etwas zu lernen vermöchte.“
Diese Bemerkung gab den Uebrigen das Zeichen, mit allerhand Weisheit herauszurücken, mit welcher sie bis dahin zurückgehalten hatten. Einer wußte von den Bereicherungen der Witterungskunde, ein Anderer von botanischen Eroberungen, ein Dritter vom Einblick in die Lagerungen und die Faltung der Erdrinde, ein Vierter einfach über die Vermessung der Oberfläche des Landes Lehrreiches vorzutragen. Auch wurde der Schweizer Alpenschriftsteller Tschudi herangezogen und nach ihm behauptet, daß hier ein titanischer Zug vorliege, welcher den schwach ausgerüsteten Menschen antreibe, einen Sieg über die rohesten Hindernisse der Natur anzustreben. Ein Schöngeist erinnerte an Jean Paul, welcher die Berge als Schemel bezeichnete, auf welche das Kind steigt, um besser in das Gesicht der Mutter schauen zu können. Wieder ein Anderer meinte, es sei diese Bergsteigerei und Kletterei weiter nichts, als eine im .Darwinistischen Sinne weiter entwickelte Form alten Höhendienstes. Einer vertrat auch einfach den Sport, indem er sagte, es gebe keine andere Uebung, bei welcher der Mensch gezwungen wäre, in gleicher Weise Alles zu verwerthen, was er an Mitgift von Muskelstärke, Muth, Beharrlichkeit und Vorsicht besäße.
Man konnte unsere Gesellschaft einen Dekamerone im kleinen Stile nennen. Bald rückte jeder mit Anekdoten heraus, welche seiner Auffassung der Sache als Beleg dienen sollten.
Ein Botaniker – dessen Namen ohne besondere Ermächtigung verschwiegen bleiben mag – meinte:
„Vermuthlich hat Jeder der Herren Recht. Die Sache hat noch mehr Seiten, als der Piz Popena dort oben Kanten. Es wäre mir nicht schwer, auf meine eigenen Arbeiten hinzuweisen, worin ich hier und dort vom Einfluß der Kälte oder Feuchtigkeit, der Höhe und der Besonnung auf die Abartung der Pflanzen, auf deren Geschichte, auf ihren Zusammenhang mit den Gewächsen der arktischen Zone und Aehnliches, wie ich hoffen will, nicht ohne alles Ergebniß, gehandelt habe. Ein Herr Kollega mag Versteinerungen finden, ein anderer den Luftdruck oder die Bewegung der Gletscher studiren – das wird ja Alles seine Berechtigung haben. Ich für meinen Theil aber ziehe es vor, bei der Wahrheit zu bleiben und zu sagen, daß es immer ganz profane Dinge waren, die mir selbst bei solchen Unternehmungen als die Haupttriebfedern erschienen. Ich gestehe es rundweg ein, daß mir die Wissenschaft dabei nur so nebenher mitging, etwa so, wie es heut zu Tage allerlei Ferienreisende giebt, die sich zum gelegentlichen Photographiren präparirte Platten in einem leichten Tornister mitnehmen, der sie übrigens zu nichts verpflichtet. Die Herren wissen, daß ich selber in einem Berglande wohne. Ich bekenne offen, daß ich noch nie eine Alpenfahrt angetreten habe, ohne daß sich vorher ungefähr Folgendes zugetragen hat. Ich muß an einem klaren Abend oder Morgen, der andauerndes schönes Wetter verheißt, am Fenster stehen und auf irgend einen unserer Hochgipfel, wo es sich eben aus der Wolkenhülle heraus lichtete, hinaufschauen. Dann lockt es mich. Es zieht mich der Gedanke fort, wieder einmal die Welt von oben herab zu betrachten. Wie man mitunter Sehnsucht nach einem Feiertage verspürt, so zieht es Einen nach der Höhe. denn die Stunden, die dort oben zugebracht werden, sind ja Feiertage in unserem Dasein. Ist viel Mühsal und sogar unter Umständen ein wenig Gefahr dabei, so wird uns Solches in derartiger Stimmung nicht abschrecken, denn Mühsal und Gefahr sind die Schranken, welche einen derartigen Genuß vom großen, gewöhnlichen Troß der Menschen fernhalten. Beinahe läßt sich sagen, daß die Bequemlichkeit und der Mangel an nicht vorauszusehenden Zwischenfällen in umgekehrtem Verhältnisse stehen zu der äußeren und inneren Stärkung und zum Glanz der Erinnerung, die wir von einer Bergreise heimbringen. Je glatter Alles abläuft, desto weniger Wirkung bringt ein Gang in uns hervor und desto rascher verwischt er sich aus dem Gedächtniß. Ich muß also sagen, daß der unmittelbare Antrieb zu solchen Wanderungen bei mir doch stets mehr aus der Empfindung und aus dem Gemüthe hervorging, als aus irgend welchem theoretischen Bedürfniß.“
„Es freut mich, einen wackeren Kollegen zu finden, der in dieser Hinsicht der Wahrheit die Ehre giebt,“ erwiederte der große Chemiker. „Als Naturforscher könnte ich wohl die eine oder andere kritische Bemerkung anbringen, die ich aber gegenüber dem Ausdruck menschlicher Empfindungen unterlasse. Wäre ich nur um etliche Jahre jünger, ich nähme es wohl selbst mit einem der Thürme dort oben auf, in deren Zwischenräume sich das dichte Gewölk jetzt gleich einem abstürzenden Wasserfall hineinzwängt.“
Der Botaniker sagte: „Die Stunde wäre nicht glücklich gewählt. Aus der Bewegung der Wolkenstreifen, die sich dort um den Grat herumziehen, erkenne ich, daß Einer jetzt gerade ein schlimmes Viertelstündchen dort zubrächte. Dort rast es, daß er sich an den scharfen Klippen festhalten muß, während über und neben ihm die losgelösten Steine rasseln. Der wilde Pfarrer, den die Einbildungskraft des Volkes auf diese Höhe versetzt, spielt jetzt seine Geige.“
Die Rede kam nunmehr auf die verschiedenartigen Fährlichkeiten des Hochgebirges. Das Gespräch wurde lebhafter.
Unser Botanikus wurde gefragt, ob er jemals in seinem Leben eine gefährliche Bergreise unternommen habe.
„Auf diese Frage,“ sagte er nach einigem Nachdenken, „kann ich keine bestimmte Antwort geben. Wenn sie so gemeint war, ob ich jemals ernstliche Gefahren auf dem Gebirge ausgestanden habe, so sage ich: ja. Soll ich aber sagen, ob der nämliche Gang stets unter allen Umständen ein gefahrvoller sein mußte, so antworte ich mit Nein. Es waren eben besondere Verhältnisse, welche das Gefährliche, oder vielmehr das Abenteuerliche, herbeiführten. Das Nämliche gilt wohl im Allgemeinen für die gesammte Unglückschronik der Alpen. Wir haben Gipfel, deren Ersteigung einen ganzen Mann erfordert, auf welchen sich noch niemals ein unglücklicher Zwischenfall abspielte, und andere, die man durch einen Spaziergang erreicht, welche aber durch allerlei Unglücksfälle schier in übeln Ruf gekommen sind. Bei einer der ersten Ersteigungen des gewaltigen Triglav in Krain wurden mehrere der Reisenden auf der Spitze vom Blitze erschlagen. Seit der Zeit haben zahllose Besteigungen stattgefunden , ohne daß jemals wieder eine Hiobspost von diesem Berge ins Land gedrungen wäre. Ein Tauernübergang ist das eine Mal eine Spielerei, während er das andere Mal ganze Gesellschaften in Todesnoth gebracht hat. Mancher Berg, welcher jetzt von Volk aus aller Herren Ländern überlaufen wird, wurde von früheren Ersteigern nur unter unsäglichen Mühseligkeiten und Gefahren erobert. Jedenfalls ist es bei der Beurtheilung, ob diese oder jene Spitze gefährlich ist, mindestens eben so nothwendig, die Launen des Himmels, den dermaligen Zustand der Schneebedeckung, die Frage, ob Früh- oder Spätsommer, in Berücksichtigung zu ziehen, wie die plastischen Umrisse des Berges. Das Allerwichtigste bleibt aber die Frage nach dem Menschen selbst, der die Reise unternehmen will, denn der Satz, daß Jedermann seines eigenen Schicksals Schmied ist, bewährt sich nirgends zutreffender als im Kampfe mit den Gewalten des Hochgebirges.“
Der Botanikus schwieg eine Weile. Mehrere aus der Gesellschaft baten ihn, uns die Erzählung irgend einer seiner abenteuerlichen Fahrten zum Besten zu geben.
Er besann sich nicht lange, sondern erwiederte bald, daß es ihm nirgends schlimmer ergangen sei, als bei einer Besteigung des –kogels.
Ich unterlasse es hier, den vollen Namen dieser prachtvollen Spitze beizusetzen. Sie ist seither in die Mode gekommen, und es könnten sich Leute finden, die in einem solchen Berichte eine ungerechtfertigte Anschwärzung eines harmlosen Berges erblickten. Im Uebrigen thut auch der Name wenig zur Sache.
Der Botanikus begann:
„Ich hatte im Anfang des Sommers auf dem hohen Gebirge sowohl auf der Süd- als auch auf der Nordseite den Samen einiger Silenenarten eingesetzt, weiche noch in der Schneeregion gedeihen. Nunmehr wollte ich in schon weit vorgerückter Jahreszeit nachschauen, wie weit sich die Pflanzen auf der Mittagsseite im Verhältniß zu jenen auf der Schattenseite entwickelt hätten. Ich hoffte, eine lehrreiche Erfahrung über den Einfluß des Sonnenlichtes in jener Höhe zu gewinnen. Es war schon Ende [675] September, doch das Wetter außerordentlich schön und der Gletscher fast gänzlich schneefrei, wie es von unten mit dem Fernrohre leicht überschaut werden konnte.
Ueber meiner Unternehmung waltete von allem Anfang an trotzdem ein Unstern. Es schien, als ob sämmtliches Mißgeschick, welches in den Alpen überhaupt möglich ist, alle seine Register aufgezogen hätte.
Der erste unliebsame Zwischenfall war schon der, daß ich auf den Wochentag nicht Obacht gegeben hatte. Es war in der Abenddämmerung eines Sonnabends, als ich in dem hoch gelegenen Gebirgsdorf ankam. Ich hatte übersehen, daß ich am nächsten Morgen, an einem Sonntage, nicht zur richtigen Stunde würde aufbrechen können, weil an diesem Tage der Führer nicht fortgeht, ohne vorher dem Frühgottesdienste beigewohnt zu haben. Bis derselbe von der weit entlegenen Kirche zurückkam, war der um diese Jahreszeit bereits so beschränkte Tag um kostbare Stunden verkürzt.
Das war der erste Fehler. Ich machte aber alsbald einen noch viel bedenklicheren. Im Wirthshause saß ein Tourist, welcher ursprünglich nur die Absicht gehabt hatte, bis hierher zu kommen, um sich den vergletscherten Hintergrund des Thales zu betrachten. Als derselbe von meiner Absicht hörte, stellte er sich alsbald vor und bat mich, mit von der Partie sein zu dürfen. Der Mann sah zwar ziemlich kräftig aus, jedoch mochte ich nicht ohne weiteres zusagen.
Ich fragte ihn, ob er bereits auf irgend einer Hochspitze gewesen sei. Er antwortete:
,Ich habe den Großen Venediger bestiegen.‘
‚Das ist kein Berg,‘ entgegnete ich.
Der Fremde schaute mich verwundert an, zog ein Buch aus der Tasche und sagte: ,Laut Baedeker ist der Große Venediger 3673 Meter hoch. Der Kogel hat nur 3200 Meter.‘
Ich zuckte die Achseln. Die Bergerfahrung eines Mannes, welcher Schwierigkeiten in solcher Weise nach der Höhe abschätzt, konnte unmöglich eine entsprechende sein. Indessen erzählte er mir von manch anderer Besteigung, die er da und dort unternommen hatte – kurzum, während des Abends, theilweise auch unter dem Einflusse eines guten Rothweins, schwand allmählich mein Bedenken, und ich machte keine Einwendung mehr dagegen, daß der Fremde, der seines Zeichens ein Ingenieur aus Mitteldeutschland war, sich an dem Gange betheiligte.
Am nächsten Morgen erwarteten wir vergeblich die Rückkehr des Führers aus der Kirche. Statt seiner kam ein Knabe, welcher uns die Meldung machte, der Mann sei um Mitternacht nach dem weit entfernten Marktflecken fortgegangen, um einen Thierarzt zu holen, da seine Kuh von einem plötzlichen Unfall betroffen worden war.
Es blieb uns also nur übrig, entweder den Gang aufzugeben oder uns nach einem anderen Führer umzuschauen. Das war aber damals nicht so leicht wie heute. Jetzt hat der Alpenverein in allen Thälern Führer, die von ihm aufgestellt oder beglaubigt sind, zuverlässige Leute, die ihre Befähigung nachweisen können und bei denen man weiß, mit wem man es zu thun hat. In unserem Falle war die Sache anders. Der Wirth stellte uns einen starken Burschen vor, den er für unsere Unternehmungen empfahl. Hinterher machten wir allerdings die Erfahrung, daß derselbe niemals auf dem Berge gewesen war, nicht einmal den sich unten hinziehenden Paß je überschritten hatte und auch im Uebrigen die Bezeichnung eines nichtsnutzigen Menschen verdiente. Seine Empfehlung verdankte er dem Umstande, daß er dem Wirth für Getränke etliches Geld schuldete und der Wirth sich bei dieser Gelegenheit mit dem Führerlohn des Mannes bezahlt zu machen hoffte.
Ein wenig Aberglauben könnte vielleicht unter Umständen nicht schaden. Nachdem sich bereits das eine und andere Hemmniß vor mir erhoben hatte, hätte ich den Gang aufgeben sollen. Indessen war das Wetter über alle Beschreibung schön, der Spätherbst mit seinen Schneefällen stand vor der Thür, und es erschien mir zu verlockend, vor Abschluß der schönen Jahreszeit noch diesen Gang zu unternehmen und zum letzten Mal in diesem Jahre die Welt aus dem Reiche des Glanzes herab zu betrachten.
Es war mehr als acht Uhr Morgens, als wir unseren Weg antraten, wenigstens um vier Stunden zu spät. Wir waren noch keine Stunde gegangen, als meinen Gefährten noch innerhalb der Waldregion ein erster Unfall traf. So warm, ja heiß uns die Sonne anschien, wenn wir zeitweilig auf eine Blöße hinaustraten, so hartnäckig stockte noch die Kälte der langen Nacht an den beschatteten Seiten der Berghalden. Wir stiegen an mehreren Wasserfällen vorüber, die uns mit ihrem Staube eisig annetzten. Plötzlich hörte ich vor mir einen Schrei. Mein Gefährte, der Ingenieur, fuhr blitzschnell über einen steilen Hang zwischen abgehackten Baumstämmen in die Tiefe.
Zur Linken rieselte eine starke Quelle, deren Wasser, sich auf dem stark geneigten Boden ausbreitend, allmählich sich in einen Eiswulst verwandelt hatte. Auf diesem Eiswulst lagen bereifte, welke Blätter, welche der Herbstwind dorthin geweht hatte. Auf den Blättern war mein Gefährte ausgeglitten und abgestürzt.
Zum Glück konnte er sich etwa zehn Meter weiter unten festhalten. Er krabbelte mühsam neben der Art von Miniaturgletscher, über welchen er abgeglitten war, herauf. Diesmal war er mit einem blutigen Knie davongekommen.
Als wir die Waldregion im Rücken hatten und bei den letzten zerzausten flechtenbehangenen Tannen und Zirben angekommen waren, wurde uns eine Ueberraschung zu Theil.
Von dem letzten Rasen weg bis hinauf zu einem Halbkreis von Felsen, auf welchen der Gletscher aufliegt, zieht sich eine steile Geröllhalde. Diese, ein wahres Sammelbecken für hineingewehten Schnee, war in ihrer ganzen Ausdehnung von tiefem Neuschnee überlagert, was wir freilich von unten aus nicht zu erblicken vermocht hatten.
Jetzt war es an uns, den Unterschied zwischen Schatten und Sonne ordentlich zu studiren. Es war furchtbar, eine wirkliche Hölle, was wir an Glanz und Hitze auszustehen bekamen, während wir im tiefen Schnee steil in die Höhe wateten. Im Hochsommer hätte ich das vielleicht weniger verspürt, aber der Körper war durch die vorangegangene Kühlung bereits empfindlicher geworden.
Einen aus dem Schnee hervorragenden Block benützte ich, von Schweiß triefend, einige Augenblicke zur Rast. Mein Gefährte hatte sich athemlos auf seinen Plaid mitten in den Schnee hineingeworfen.
Als ich im Stande war, einige Worte zu sprechen, machte ich mir das Vergnügen, laut aus dem Fegefeuer des Dante die Verse zu citiren: ,Wenn auch langsame Liebe zieht, es zu sehen, so foltert euch dafür nach gerechter Reue dieser Felsenkranz.‘ Der Dichter schien diese Verse im Anblick eines Menschen niedergeschrieben zu haben, dem es gerade so erging wie mir.
In hohem Grade erschöpft erreichten wir endlich den untersten Rand des Gletschers. Dieser, der vom Thale aus nicht gesehen werden konnte, bot nun einen ganz anderen Anblick dar als im Frühsommer. Damals hatte der Schnee die Klüfte verstopft, wenn solche gegen das untere Ende hin überhaupt vorhanden gewesen waren. Jetzt durchzogen weite Spalten das Eis von einer Felswand zur andern. Es war kein Gedanke daran, über diese hinwegzukommen.
Da auch der Führer, der sich hier völlig kopflos erwies, keinen anderen Rath wußte, schlugen wir uns auf der linken Seite des Gletschers über die glatten, manchmal von langen Kaminen durchfurchten Felsen hinauf. Bei dieser mühsamen und nicht unbedenklichen Kletterarbeit, welche uns zu andrer Jahreszeit erspart geblieben wäre, steigerten sich die Schmerzen im Knie meines Gefährten. Sein Gang wurde immer schleppender und zögernder. Schon jetzt sah ich ein, daß von einer Erreichung des Gipfels für heute keine Rede mehr sein könne.
Die Frage war jetzt nur noch, ob wir zu dem Quartiere von heute Nacht zurückkehren oder den Paß überschreiten und die erste menschliche Ansiedelung jenseit desselben aufsuchen sollten. Ich entschied mich aus mehreren Gründen für das Letztere. Die Entfernung war ungefähr die gleiche. Auf der Südseite war der Gletscher von geringerer Ausdehnung und hoffentlich kein so lästiges Schneefeld zu überschreiten, wie hier. Was mich aber hauptsächlich bewog, diesen Ausweg zu wählen, war die Rücksicht auf eine Knappenstube, die sich dort drüben in ziemlicher Höhe befand. Im schlimmsten Falle würden wir, so hoffte ich, dort ein Obdach finden können.
Nachdem ich meinem Gefährten – thatsächlich war ich der Führer geworden – diesen Entschluß mitgetheilt hatte, schlugen wir die Richtung nach der Jochhöhe ein, die nicht mehr weit entfernt war.
[676] Mit dem Fuße meines Gefährten mochte es wohl nicht zum Besten bestellt sein; doch war ich berechtigt, aus verschiedenen Anzeichen zu schließen, daß es hauptsächlich seine Wehleidigkeit war, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke stehen zu bleiben und zu klagen. Der Weg, der sich bald an nicht sehr geneigten Felswänden hinzog, bald steilere, trümmererfüllte Rinnen durchkrenzte, bald über blasiges, krustiges Eis des Gletschers führte, war nicht allzu anstrengend. Trotzdem stöhnte und jammerte mein Begleiter, nicht über seinen Fuß, sondern über die Gefahren und Schrecknisse, von denen er sich umgeben glaubte. Wenn er aus der Ferne in das dämmerige Blaugrün einer Eisspalte hinabschauen mußte, so stieß er Rufe des Entsetzens aus, als ob er schon mitten darinnen läge. Manchmal erklärte er plötzlich, nicht weiter gehen zu wollen. Ich mußte dann alle Vernunftgründe aufbieten und ihm zusprechen. Kurzum, wir kamen nicht vorwärts.
Mittlerweile konnte ich mir jedoch selbst nicht mehr verhehlen, daß unsere Lage zu allerlei Befürchtungen Anlaß geben mochte. Schon färbte sich der Gipfel zu unserer Linken, dem mein Reiseplan gegolten hatte, mit der tiefrothen Gluth der sinkenden Sonne, und wir befanden uns noch immer in der Eisregion, ja wir hatten noch nicht einmal die Paßhöhe erreicht, welche überdies, soviel ich wußte, nur durch einen sehr steilen Kamin erreicht werden konnte. Der Führer hatte zwar (und das war das einzige Zeichen von Sorgsamkeit, das ich an ihm bis jetzt wahrnahm), in Voraussicht, daß wir in die Nacht hineinkommen würden, eine Laterne mitgenommen. Aber was konnte uns die auf solchem Boden nützen?
Das Einzige, was mir einige Zuversicht einflößte, war die Klarheit des Himmels. Da vor einigen Tagen Vollmond eingetreten war, so konnte ich hoffen, daß das Licht dieses Gestirnes hinreichen würde, uns jenseit des Joches bis zu einer bewohnten Stätte zu geleiten.
Ich beschloß deßhalb, als es zu dunkeln begann, in ganz geringer Entfernung vom Kamin, der zum Joch hinaufführte, eine Raststätte aufzusuchen und dort so lange zu warten, bis der Mond aufgegangen sein würde.
Es giebt nicht leicht ein Ungemach, das nicht auch seine Lichtseite hätte. Wäre ich nicht von dem Genossen begleitet gewesen, durch dessen Unbeholfenheit mein Gang um Stunden verzögert wurde, so hätte ich die wundervollen Schaustücke dieses Abends wohl niemals erlebt.
Es wurden wenige Worte gewechselt, während wir in der eisigen Wüste auf unserem Rastplatze saßen oder mitunter, um die Kälte abzuwehren, auf und ab gingen.
Hier und dort sahen wir eine Schwalbe oder einen andern Zugvogel, der schon vor Wochen beim Flug über den Paß erfroren war, auf dem Eise liegen. Nichts regte sich. Wir hörten nur das Summen der Wasser, welche noch unter der Nachwirkung der Tageshitze reichlicher aus den Eisthoren des Gletschers abflossen, und manchmal das Dröhnen von Felsblöcken, welche aus den steilen Kaminen niederstürzten. Diese Stürze wurden offenbar durch geringfügige Aenderungen im Umfange der Körper, welche die plötzliche Erniedrigung der Wärme bewirkte, verursacht. Wir wohnten geheimnißvollen Auftritten im Innersten der Naturwerkstätte bei, Auftritten, durch welche die Oberfläche der Erde im Laufe ungemessener Zeiten umgestaltet wird.
Plötzlich schien es mir, als schöben sich finstere, furchtbare Riesengestalten über das noch mattblinkende Eis hinweg. Zugleich donnerte es aus verschiedenen Klüftungen heraus, als ob Hunderte von Kanonen ihren Kampf gegen einander begonnen hätten. Die alten Frostriesen waren über die Welt gekommen und Thor suchte sie mit seinem Hammer zu zerschmettern.
Die Oberfläche des Gletschers wurde goldflüssig im Lichte des eben aufgegangenen Mondes. Die Riesen aber, das waren die Schatten der Zacken, die sich über den starren Eisstrom hinzustrecken und zu regen begannen. Sie blieben nicht stätig. Wenn die Mondscheibe hinter einen Felskamm trat, verschwanden sie ins Reich ihrer heimathlichen Finsterniß, um alsbald mit den aufs Neue hervorbrechenden Strahlenfluthen sich wieder hervorzuwagen.
Wenn ich, um das Alles näher zu betrachten, weiter gegen die beleuchteten Stellen vorschritt, sah ich mich mit meinem Schatten den Riesen beigesellt. Langsam rückten wir schwarze Gestalten alle vor gegen das Eis und die Moränenblöcke hin – eine wunderliche Gesellschaft im Wandelspiele der Welt.
Nunmehr war es Zeit, an die Fortsetzung unserer Reise zu denken. [695] Nur der steile Kamin trennte uns noch von der Jochhöhe. Am Tage wäre es kein Kunststück gewesen, denselben zu durchklettern, da man die Eisplatten und gefrorenen Schneekrusten, melche hier und da seinen geneigten Geröllboden unterbrachen, wohl entweder vermeiden oder mit einiger Vorsicht gefahrlos begehen konnte. Nunmehr lag aber der dunkle Schatten der Nacht in der engen Röhre, in welche die Mondstrahlen keinen Eingang fanden.
Trotzdem erreichten wir so ziemlich ohne absonderliche Anstrengung ungefähr die Mitte des Kamins. Der Ingenieur keuchte hinter mir her, der Führer irrlichterte mit seiner nutzlosen Laterne in einiger Entfernung voraus.
Ich weiß nicht, welche Erscheinungen den Ersteren mit einem Mal so in Schrecken versetzten, daß er stehen blieb und erklärte, unter keinen Umständen weiter gehen, sondern den Rückweg einschlagen zu wollen. Waren es einige Steine, die, vom Fuße des Führers gelockert, an uns vorüberflogen, war es die Furcht, auf dem Anstieg zum Joch noch weiteren Schwierigkeiten zu begegnen, oder die Gesammtwirkung der Ermüdung und der nächtlichen Einöde – genug, er erklärte, nicht weiter gehen zu können.
Das war unter den vorwaltenden Umständen der reine Unsinn. Da alle meine Vorstellungen nichts fruchteten, so stand ich eine Weile rathlos da, denn mir selbst fiel es nicht ein, den Rückweg einzuschlagen.
Nun kam mir ein Gedanke – der Himmel weiß, woher. Vielleicht flüsterten mir ihn die Unholde der Nacht zu. Die Ausführung desselben ist wohl einzig in den Jahrbüchern der Bergbesteigungen.
Ich trat zum Führer hin, der weiter oben stand, und wechselte mit ihm längere Zeit Worte, welche der Ingenieur nicht vernehmen konnte. Zuerst wollte jener durchaus nicht auf das eingehen, was ich ihm zumuthete. Endlich hatte ich aber seine Bedenken dennoch überwunden.
Da geschah das Unerhörte. Mit einem Mal stand der Führer an der Seite meines Genossen und brachte ihm unter gräulichen Flüchen, indem er ihn zugleich vorwärts schob, einen Hieb nach dem andern bei. Er glich in diesem Augenblicke einem Fuhrmann, welcher mit Gebrüll und Verwünschungen auf ein Pferd lospeitscht, das vor einem steigenden Hang stehen bleibt.
Es folgte, was ich erwartet hatte. Mein Genosse, dem über diesen rohen Angriff der Verstand stehen geblieben war, taumelte willenlos unter den Püffen des Bauernknechtes, ohne zu wissen, was mit ihm vorging, den Rest des Kamines hinan.
In wenigen Augenblicken hatten wir die Paßhöhe erreicht. Als wir den Athem wieder gewonnen hatten, nahm der Führer seinen Hut ab, fiel auf die Kniee nieder und bat meinen Genossen um Vergebung für das, was er ihm angethan hatte. Dieser aber hörte kaum auf das, was der Führer vorbrachte. Er blickte unverwandt in den Kamin hinab und sagte ein über das andere Mal: ‚Da bin ich herauf gekommen? Nicht um alle Millionen der Erde würde ich den Weg noch einmal zurücklegen.‘
Ich beschwichtigte ihn, so gut es ging, und suchte das Verfahren, das auf ihn angewendet worden war, thunlichst zu entschuldigen – eine nicht ganz leichte Aufgabe. Er hatte indessen den guten Geschmack, glatt über die Sache hinwegzugehen, und war offenbar selbst froh, daß er auf irgend eine Weise über das Joch hinüber befördert worden war.
Ich glaubte nun, daß wir das Schlimmste hinter uns hätten. Es dauerte aber nicht lange, bis ich meinen Irrthum erkannte. Der Gletscher auf dem Südhang war allerdings nicht so ausgedehnt, aber unter dem Einflusse der Sommerhitze in einem viel höheren Grade zerrissen und zerklüftet worden als die Eisfelder auf der Nordseite. Als ich den Führer über den einzuschlagenden Weg befragte, zeigte es sich, daß er dieses ,Kees‘ niemals betreten hatte. Sein Verstandeslicht half uns also da noch weniger als seine Laterne.
Wir geriethen alsbald in ein Labyrinth von Gletschertischen und Spalten, deren Wände, wenn sie vom Mondlicht getroffen wurden, in einem unheimlichen Grüngold schimmerten. Unvergeßlich bleibt mir jene Wanderung.
In der Erinnerung treten die lästigen und bösen Seiten eines Erlebnisses mehr zurück, es bleiben dafür die anregenden sogenannten romantischen, stärker haften. Ich will mich jetzt nicht mehr darüber besinnen, wie oft ich voll Besorgniß auf der nassen, dünnen, rutschenden Schuttschicht, die an den meisten Stellen das Eis bedeckte, stehen blieb, um vorzusehen, ob nicht ein Abgleiten in irgend eine Kluft zu befürchten wäre, oder um einen Ausweg aus dem Durcheinander von Spalten ausfindig zu machen.
Mein Genosse stürzte mehrmals, indem er sich an steileren Stellen der Eisfläche auf dem mürben Schutt nicht zu halten vermochte. Als er wehklagend sich wieder einmal von einem solchen Fall erhob, verließ mich die Selbstbeherrschung und Geduld, die ich mir bis dahin bewahrt hatte. Mein Ingrimm über die Unwissenheit, Unfähigkeit und den Leichtsinn des Führers machte sich in einer furchtbaren Schimpfrede, die ich über denselben ergoß, Luft.
Ich hatte Unrecht. Erstlich war es hierfür lange zu spät und dann hatte mein Wuthausbruch einen Erfolg, an den ich allerdings nicht gedacht hatte. Derselbe sollte sofort eintreten.
Kaum hatte der Widerhall von den Wänden meine mehr geschrieenen als gesprochenen Worte wiedergegeben, als ich dicht neben mir einen Aufschrei vernahm. Mein Genosse war in eine Kluft abgestürzt, die durch eine Schneebrücke zugedeckt war, welche kaum zwei oder drei Zoll im Durchmesser hatte. Ich war dem nämlichen Schicksal nur dadurch entgangen, daß ich, um meine Standrede zu halten, etwa eine Klafter von ihm entfernt stehen geblieben war.
Mein erster, instinktiver Schrei war nach dem Seil. Bis jetzt hatten wir dasselbe nicht benutzt, weil es auf dem sanften Gletscher der Nordseite unnöthig war, und diesseits hatte ich es abgelehnt, uns anbinden zu lassen, weil ich dem Führer mißtraute und beim lichten Mondschein hoffen durfte, meinen Genossen zwischen den, wie mir schien, allenthalben offenen Klüften, wenn er sich knapp bei mir hielt, leichter durchzubringen, als wenn wir Alle zusammengebunden gewesen wären. Hatte ich ihn doch fast immer, so unnöthig es schien, während dieses letzteren Theils unserer Wanderung knapp an der Hand gehalten.
Der Führer warf mir das Seil zu und ich beugte mich über den Rand der Kluft. Ein Mondstrahl fiel auf einen hervorragenden weißen Buckel, etwa sieben oder acht Meter unter der Oberfläche. Auf diesem saß rittlings mein Genosse. Er schrie mir herauf, daß er sich unverletzt fühle. Der Spalt hatte ein Aussehen, als ob eine teigige Masse aus einander gebrochen wäre. Fast allenthalben standen an den Wänden Hervorragungen einander gegenüber. Ich konnte also vorläufig hoffen, daß mein Genosse nicht so rasch in die Tiefe sinken würde.
[696] Ich ließ ihm nun den Strick hinab, forderte ihn auf, sich anzubinden, und rief nach dem Führer, daß er mir beim Ziehen behilflich sein solle. Keine Antwort. Betroffen schaute ich herum. Der Führer war verschwunden.
Ich weiß nicht, durch welche plötzliche Erleuchtung mir die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie sein mochte, augenblicklich in das Bewußtsein trat. Dieser sogenannte Führer, bereits eingeschüchtert von meiner Strafpredigt und jetzt durch das Einbrechen meines Genossen ganz außer Rand und Band gebracht, hatte sich geflüchtet und war in seiner Dummheit einfach davongelaufen, um sich irgendwo den Folgen, die er fürchtete, zu entziehen.
Das war nun aber noch nicht das Schlimmste. Mein Genosse rief mir zu, er stütze sich mit seinen beiden Händen auf den Eisbuckel und wage es nicht, denselben auch nur mit einem Arme loszulassen. Er fürchte sich davor, sich die Schlinge um den Leib zu legen.
Ich machte ihm begreiflich, daß wir in diesem Falle alle Beide verloren sein könnten, denn mir bliebe jetzt nichts Anderes übrig, als zu ihm hinab zu klettern und einen Versuch zu wagen, ihm selbst die Schleife um den Leib zu legen. Machte ich dabei einen Fehltritt und glitt ab, so würden wir alle Zwei in der Kluft begraben sein.
Auch das machte keinen Eindruck auf ihn. So blieb mir nichts Anderes übrig, als mich ungefähr in der Weise eines Kaminfegers hinabzulassen. Aus unsichtbarer Tiefe rauschte das Wasser herauf, aus der Dunkelheit zog sich ein Luftstrom in die Höhe, der Einem das Mark erstarren machen konnte. Ich nahm mein Messer zu Hilfe und tiefte, mich vorbeugend, da und dort Höhlungen aus, in welche ich alsdann die Fußspitze einsetzte.
Auf diese Weise gelangte ich so weit in die Nähe meines Genossen, daß ich ihn zu berühren vermochte. Aber auch jetzt wagte er es noch nicht, mir die Hand zu reichen, um das Seil entgegenzunehmen. Eben so wenig getraute er sich aufzustehen, obwohl ich ihn mit einer Hand von oben herab festgehalten hätte. Dabei wiederholte er stets die Worte: ,Es ist umsonst, ich erfriere, ich erfriere.‘
Indem ich jetzt mich noch weiter, bis auf den Vorsprung seines Eisbuckels hin, hinabließ, ihn zwang, seine Arme vom Eis zu entfernen, damit ich ihm die Schleife unter die Achsel schieben konnte, und mich nur mit einer Hand an einen Eiszapfen der jenseitigen Wand festhielt, schwebte ich selbst in der alleräußersten Lebensgefahr. Wenn ich sage: ‚schwebte‘, so ist dieses Wort in seiner eigentlichsten Bedeutung zu nehmen.
Ich verlor deßhalb auch keinen Augenblick, mich sofort wieder in die Höhe empor zu zwängen, sowie ich verspürt hatte, daß die Schlinge unter den Achseln fest saß. Trotz der Kälte in Angstschweiß gebadet und schier athemlos, erreichte ich den Rand der Kluft.
Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, rief ich dem Verunglückten zu, er möge sich nun mit dem nächsten Rucke, den er verspüre, aufraffen, seine Kniee ordentlich zu Hilfe nehmen, sich je nach Umständen mit den Händen am Seile oder am rauhen Eise halten und sich in die Höhe zerren lassen.
Umsonst. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber es ging nicht. War meine Kraft nicht ausreichend genug, stellte sich mein Genosse zu ungeschickt oder zu furchtsam – er kam um keinen Fuß weit in die Höhe. Statt dessen hörte ich, wie er mit schwacher Stimme herauf rief, ich solle ihn zu Grunde gehen lassen.
Jetzt fiel mir in meiner Angst bei, daß es mir in der stillen Nacht vielleicht gelingen könne, die Insassen der Knappenstube, die auf dieser Höhe einen bescheidenen Bergbau auf Smaragde trieben, durch Schreien aus ihrem Schlafe zu erwecken. Die Knappenstube konnte nach meiner Rechnung in der Luftlinie kaum mehr als zwei Kilometer weiter unten liegen. Es war also nicht undenkbar, daß Rufe gehört wurden.
Eben schickte ich mich an, einen durchdringenden Schrei auszustoßen, als mir die Stimme in der Kehle erstarb. War es denn heute nicht Sonntag und wußte ich nicht, daß die Knappen des Sonnabends ihre Hütten verlassen, um erst Montags früh wieder zurückzukehren?
Ich gestehe offen, daß ich jetzt unsere Partie für verloren gab. Wohl versuchte ich es noch unzählige Male, den Verunglückten emporzuziehem und redete ihm unablässig zu. Aber es rührte sich nichts und seine Antworten wurden immer schwächer und einsilbiger.
Mit einer Art von Wuth gedachte ich zeitweilig meines letzten Ganges über dieses Gebirge im Frühsommer. Es war ein herrlicher Spaziergang durch glänzende Gefilde hindurch gewesen, kein Schatten von Anstrengung oder Beschwerlichkeit hatte mir den wundervollen Tag getrübt. Und jetzt, diese Reihe von Widerwärtigkeiten, die schließlich an ein offenes Grab führten!
Wie lange es so fort ging – ich weiß es nicht mehr. Plötzlich hörte ich Geräusch hinter mir auf dem Eise. Als ich mich umwandte, standen zwei Männer vor mir.
Es waren der Hutmann der Knappenstube und ein Schmied aus dem obersten Dorfe des Thales.
Die Sache hatte sich so zugetragen. Der Hutmann war, statt wie gewöhnlich an Montagen gegen Morgen, schon vor Mitternacht aus dem Thale aufgebrochen. Er hatte sich den Schmied mitgenommen, der ihm einen Fehler am Pocher ausbessern sollte, damit die Maschine schon wieder in Gang gesetzt werden konnte, wenn in der Frühe die Knappen heraufkamen. Auf dem Wege waren die beiden Männer dem flüchtigen Burschen begegnet. Die Gewissensbisse, welche denselben quälen mochten, veranlaßten ihn, von seinen Abenteuern wenigstens so viel zu erzählen, daß diese begriffen, um was es sich handelte.
Für den Augenblick wurde wenig gesprochen. Die beiden Männer machten nicht viel Federlesens, sondern rissen mit vereinten Kräften, denen sich meine schon ermüdeten Arme beigesellten, meinen Genossen an die Oberfläche empor.
Es war höchste Zeit geworden. Wenn mir,“ so schloß der Botanikus seine Rede, „jene Nacht in der Erinnerung bleibt, so wird, wie ich glaube, der gute Ingenieur Zeit seiner Tage um so lebhafter daran denken.“
„Diese Geschichte,“ bemerkte nach einer Weile Justus von Liebig, „bietet allerdings eine Reihe von widrigen Zufällen, wie sie in dieser Aufeinanderfolge nicht leicht vorkommen mögen. Daß sie nicht wesentlich zur Sache gehören, beweist der Verlauf des früheren Ganges, welchen der Vertreter der lieblichen Wissenschaft, den wir soeben gehört haben, über den nämlichen Berg hin zurückgelegt hat. Ich glaube, daß wir, wenn wir die Geschichte alpiner Unglücksfälle verfolgen, fast bei jedem derselben auf ein ähnliches Ungefähr stoßen, das so wenig zur Sache gehört, wie etwa die Entgleisung eines Zugs in die Fahrordnung. Wenn solche Dinge einerseits zur Vorsicht mahnen, so wäre es andererseits nicht genug zu beklagen, wenn dadurch eine oberflächliche Betrachtungsweise sich von den Wundern der Alpenwelt abschrecken ließe. Jene hohe und glanzvolle Region ist und bleibt einmal die Rüstkammer, in welcher sich Leib und Seele neue Gesichtskreise und neue Kräfte holen. Es ist gewiß kein Zufall, daß der Trieb, in die Welt dort oben einzudringen, sich gerade in einer Zeit besonders geltend macht, in welcher der harte Kampf des Kulturdaseins, der philisterhafte Eigennutz, die Streberei und die Jagd nach Gewinn dringend ein Gegenmittel und eine Gegenbewegung herausfordern. So macht es die Natur ja überall, im Leiblichen wie im Geistigen. Sie besitzt an sich eine eigene Heilkraft, welche entstehende Schäden auszugleichen trachtet. Rührt sich hier die rücksichtslose Selbstsucht, will sich das Geld auf den Thron der Erde setzen, so regt sich andererseits der Trieb nach dem seligen Glanze der Höhen. Lockt hier der Koupon, so winkt dort das Edelweiß.“
Jahre sind darüber hingegangen und ich habe mich oft jener Stunde zu Höhlenstein erinnert. Am eindringlichsten geschah dies in den letzten Tagen, als ich wahrnahm, daß man aus einer Reihe von Unglücksfällen hie und da fast Veranlassung nehmen will, die Alpenwelt in Bann zu legen. Was verschuldet ist an jenen Unglücksfällen und was zum Schutze der Touristen geschehen muß, soll hier nicht untersucht werden. In einer der nächsten Nummern wird eine berufene Feder diese Frage vor den Lesern der „Gartenlaube“ erörtern. Das Eine möchten wir aber schon jetzt betonen: Niemand fällt es ein, andere körperliche Uebungen als solche für das verantwortlich zu machen, was zeitweilig aus irgend welchem Grunde dabei Unliebsames vorfällt. – So wollen wir es auch mit dem Besuche der Alpenwelt halten. Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr emporpilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird.