MKL1888:Sozialdemokratie
[53] Sozialdemokratie, diejenige sozialistische Richtung und Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Der Begründer der S. ist der Franzose Louis Blanc (s. d. und Sozialismus). Die von ihm in den 40er Jahren in Paris gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische. Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluß auf die Politik in Frankreich dadurch, daß zwei ihrer Führer, L. Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der von F. Lassalle (s. d.) 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige statutarische Zweck dieses Vereins, der sich zu dem sozialistischen Programm [54] Lassalles bekannte, war die „friedliche und legale“ Agitation für das damals noch nicht in Deutschland bestehende allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, welcher unter der Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling, Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte Wahlgesetz 1867 durch Bismarck das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes geworden war und der begabte Litterat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische Programm des Vereins erweitert. In dem Verein vertraten Hasenclever und Hasselmann eine radikalere Richtung, diese siegte, und 1871 wurde v. Schweitzer als ein bezahlter Agent der preußischen Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl, nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler (Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Staats- und Gemeindewahlen auf alle Altersklassen vom 20. Jahr ab, Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit Freilassung der Einkommen unter 500 Thlr. und mit einem Steuerfuß von 20–60 Proz. für Einkommen über 1000 Thlr., Abschaffung der Gymnasien und höhern Realschulen, Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner „Sozialdemokrat“. Die Forderungen und ganze Art der Agitation näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise einer zweiten sozialdemokratischen Partei, welche unter dem Einfluß von Karl Marx und der internationalen Arbeiterassociation im August 1869 Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründet hatten. In der internationalen Arbeiterassociation war seit 1866 die erste internationale und zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische Partei entstanden (s. über deren Programm, Organisation und Agitation die Art. Internationale und Sozialismus). Liebknecht und Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in das Lager der Internationale hinüberzuführen, auf einem allgemeinen Arbeiterkongreß in Eisenach im August 1869 die Gründung einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch, welche sich ausdrücklich als deutscher Zweig der Internationale konstituierte. Die neue Partei, vortrefflich organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger „Volksstaat“), entfaltete namentlich seit Anfang der 70er Jahre eine außerordentliche Rührigkeit, im Mai 1875 vereinigte sie sich mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein auf dem Kongreß in Gotha (22.–27. Mai) zur sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das Parteiprogramm (s. d. im Art. Sozialismus), ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem frühern Eisenacher Programm von 1869 überein. Der „Volksstaat“ (später „Vorwärts“) wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit, die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische Preßorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über 15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein illustriertes Unterhaltungsblatt, „Die Neue Welt“, mit 35,000 Abonnenten. Ein Hauptagitationsorgan waren die besoldeten, redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil besoldete) und die nicht besoldeten „Redner“ (1876: 77). Bei den Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten 1871: 124,655, 1874: 351,952, 1877: 493,288 (s. unten). Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre, mit diabolischem Geschick wurden in ihrer Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, welche zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen mußte, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881 gültige Reichsgesetz vom 21. Okt. 1878 „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S.“ Es wollte verhindern die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation, insbesondere Bestrebungen sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Art, welche, auf den Umsturz der bestehendem Rechts- oder Gesellschaftsordnung gerichtet, diesen direkt bezwecken oder in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen, gefährdenden Weise zu Tage treten. Es verbot bei Strafe daher Vereine, Versammlungen, Druckschriften dieser Art sowie die Einsammlung von Beiträgen zu diesen Zwecken; Personen, welche sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machen, können aus bestimmten Landesteilen oder Orten ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. kann aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden. Auch kann über Bezirke und Orte, in welchen durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erscheint, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 bis zum 30. Sept. 1884, dann bis 30. Sept. 1886, hierauf bis 30. Sept. 1888 und darauf nochmals bis 30. Sept. 1890 verlängert. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990, 1887: 763,128); aber es hat die in hohem Grad gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most in London herausgegebene „Freiheit“ wurde, und deren Mitglieder auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten gegen Beamte und von Raubmorden [55] ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in Zürich erscheinende „Sozialdemokrat“. Zu einer definitiven Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen. gemäßigten, aber noch immer radikalen und revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem Kongreß in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch die „gemäßigte“ Richtung aus dem Gothaer Programm in dem Satz, daß die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort „gesetzlichen“ strich. Das radikale sozialistische Programm, wie es in den statutarischen Bestimmungen und Kongreßbeschlüssen der Internationale und in dem Gothaer Programm von 1875 festgesetzt wurde, ist im wesentlichen das Programm der Sozialdemokraten in allen Ländern, wo die S. besteht und organisiert ist, und dies ist außer in Deutschland heute namentlich in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Dänemark und in Nordamerika der Fall. Vgl. Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Brem. 1879); weitere Litteratur bei Internationale und Sozialismus.
[851] Sozialdemokratie. Das Sozialistengesetz vom 31. Okt. 1878 (s. Sozialdemokratie, Bd. 15) war als Ausnahmegesetz nur für eine bestimmte Zeitdauer erlassen und 1888 zum letztenmal bis 30. Sept. 1890 verlängert worden. Von diesem Tage ab war es außer Kraft getreten. Infolgedessen entwickelte sich unter den Sozialdemokraten Deutschlands alsbald eine rührige und erfolgreiche offene Agitation. Oktober 1890 wurde ein Parteitag in Halle abgehalten, auf welchem die Organisation der Partei festgestellt wurde. Hierauf wurde eine Revision des Parteiprogramms in Angriff genommen. Dasselbe enthielt nach der 1875 in Gotha festgestellten Fassung, welche ein Ergebnis der Vereinigung der damaligen beiden sozialistischen Parteien, des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins (Lassalleaner) und der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (spottweise Eisenacher Partei der Ehrlichen genannt), gewesen war, mehrere Zugeständnisse an die Lassallesche Richtung, welche den Strömungen und Entwickelungen der Neuzeit nicht mehr entsprachen: so das Verlangen nach einer gerechten Verteilung des Arbeitsertrags, die Bemerkung, daß die sozialistische Arbeiterpartei zunächst im nationalen Rahmen wirke, insbesondere aber die Forderung der Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen. Marx hatte das damalige Programm einer scharfen Kritik unterzogen, welche 1891 in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde. In derselben Zeitschrift wurde auch ein von Kautsky verfaßter neuer Entwurf mitgeteilt, welcher zu lebhaften und eingehenden Besprechungen in der Parteipresse Veranlassung gab. Nachdem von verschiedenen Seiten her Anschauungen kundgegeben und Vorschläge gemacht worden waren, wurde im Oktober 1891 ein zweiter Parteitag in Erfurt abgehalten und auf demselben ein neues Programm vereinbart. Dasselbe bringt in einer Einleitung die allgemeinen Grundsätze, von welchen ausgehend die sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Reihe von Forderungen stellt, welche noch auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung verwirklicht werden sollen. In der Einleitung wird bemerkt, die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führe mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bilde. Sie trenne den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandle ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern würden. Der Übergang zum Großbetrieb und zur Anhäufung des Kapitals in wenigen Händen werde ganz besonders durch die Entwickelung der Technik und der Verkehrsmittel begünstigt. Damit werde aber immer größer die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, es würden die Krisen immer umfangreicher und verheerender, damit aber wachse die Unsicherheit der Existenz für die Masse der Gesellschaft, nehme Elend, Druck und Not zu. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerken, Rohstoffen, Werkzeugen, Maschinen, Verkehrsmitteln) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion könne es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elendes und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde. Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeute die Befreiung nicht bloß der Arbeiterklasse, sondern der gesamten Menschheit, welche unter den heutigen Zuständen leide. Nun seien aber die Interessen der Arbeiterklasse in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Die Befreiung der Arbeiterklasse sei darum ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt seien. In dieser Erkenntnis fühle und erkläre die sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller Länder. Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert sie zunächst:
1) Allgemeines gleiches und direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen [852] und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.
2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.
3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.
4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.
5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen.
6) Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.
7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höhern Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur Ausbildung geeignet erachtet werden.
8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.
9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.
10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbgutes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.
Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:
1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; d) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.
2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.
3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.
4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.
5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.
Über die Vertretung der S. im deutschen Reichstag vgl. den Art. Volksvertretung. Während von der Gesamtzahl aller Stimmen diejenigen, welche auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, stellte sich 1890 der Anteil bereits nahezu auf ein Fünftel. Bei der ersten ordentlichen Wahl wurden für die S. abgegeben:
1871 | 1874 | 1877 | 1878 | 1881 | 1884 | 1887 | 1890 | |
1000 Stimmen | 124,7 | 352,0 | 493,3 | 437,1 | 312,0 | 550,0 | 763,1 | 1427,3 |
Proz. der Gesamtzahl | 3,02 | 6,78 | 9,14 | 7,59 | 6,12 | 9,68 | 10,11 | 19,74 |
[Einnahmen, Ausgaben.] Nach dem von der Parteileitung der deutschen S. 1891 in Erfurt mitgeteilten Bericht hatte die Partei in der Zeit vom 1. Okt. 1890 bis 30. Sept. 1891 im ganzen eingenommen: 223,867 Mk., darunter 168,845 Mk. an freiwilligen Beiträgen, 5691 Mk. an Zinsen, 9352 Mk. als Rückzahlung von Darlehen und 38,909 Mk. als Überschuß des Parteiorgans „Vorwärts“. Die Ausgaben waren in dieser Zeit: 134,950 Mk. Dann wurden verwandt für Unterstützungen an Personen oder Angehörige von Personen, welche infolge ihrer Parteithätigkeit geschädigt oder gemaßregelt wurden, 10,749 Mk., Prozeß- und Gefängniskosten 5987 Mk., für die Wahlagitation 8447 Mk., für die allgemeine Agitation 31,480 Mk., worin auch die Beihilfen inbegriffen sind, welche notleidende Lokalblätter aus der Parteikasse erhielten. Außerdem wurden Zuschüsse gewährt für die für die polnischen Landesteile berechnete „Gazeta Robotnicza“ 2776 Mk. und für die „Elsaß-Lothringische Volkszeitung“ 16,603 Mk. Die Ausgaben für den Reichstag stellten sich auf 15,707 Mk. Seither waren den Reichstagsabgeordneten für den Aufenthalt in Berlin täglich 5 Mk. gewährt worden. Dieser Satz wurde, weil er zu niedrig sei, auf 6 Mk. erhöht. Außerdem wurden an Wohnungsgeld für die Abgeordneten, welche eine besondere Wohnung zu nehmen gezwungen sind, monatlich 25 Mk. bewilligt. Fraktionsmitglieder, welche ein eignes Geschäft haben und in demselben geschädigt werden, erhalten täglich 9 Mk. statt 6 Mk. In Berlin oder dessen nächster Umgebung wohnende Fraktionsmitglieder erhalten für den Tag, an welchem sie einer Sitzung beiwohnen, 3 Mk., und wenn sie geschäftlich geschädigt werden, 6 Mk. Eine Anzahl besser gestellter Fraktionsmitglieder verzichtet auf Entschädigung. Diäten werden nur für die Tage der Anwesenheit in Berlin und die Reisetage bezahlt. Die Verwaltungsausgaben beliefen sich auf 16,852 Mk. Dieselben enthalten die Umzugskosten der Sekretäre, die Einrichtungskosten des Büreaus, die Ausgaben für Miete etc., ferner die Kosten für zwei Telephone und die Ausgaben für die Konferenzen der gesamten Parteileitung und die Gehalte der Vorstandsmitglieder. An Gehalt werden monatlich gezahlt: für zwei Sekretäre je 250 Mk., für einen Hilfssekretär 120 Mk., für den Kassierer 150 Mk., für die beiden Vorsitzenden je 50 Mk. Auf Gesamtbeschluß des Vorstandes ist jedes Mitglied verpflichtet, den ihm bestimmten Gehalt anzunehmen, doch ist ihm unbenommen, in Form freiwilliger Beiträge an die Kasse ganz oder teilweise auf denselben zu verzichten, wovon Gebrauch gemacht wurde. Darlehen wurden gewährt im Betrage von 25,562 Mk. Unter denselben befinden sich 8000 Mk. Kautionsleistungen für verhaftet gewesene Parteigenossen, 4000 Mk. für eine Hypothek auf ein früher der Partei gehöriges Grundstück, die inzwischen wieder zurückgezahlt wurden, ferner 6000 Mk. an verschiedene in augenblickliche Notlage gekommene Lokalblätter.
[Parteipresse.] Die sozialdemokratische Presse hat, nachdem das Sozialistengesetz außer Kraft getreten, einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlaß dieses Gesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter und 1 illustriertes Unterhaltungsblatt, die wöchentlich in 11/2 Bogen Umfang erschienene „Neue Welt“. Parteiorgan war der in Leipzig herausgegebene „Vorwärts“ (an Stelle des frühern „Volksstaat“). Eine wissenschaftliche Zeitschrift der Partei erschien halbmonatlich unter dem Titel: „Die Zukunft“, während in Zürich eine wissenschaftliche Monatsschrift: „Die neue Gesellschaft“, [853] herausgegeben wurde. Diese beiden Zeitschriften hatten mehrere tüchtige Mitarbeiter und wurden ebenso wie ein großer Teil der sozialdemokratischen Presse mit Geschick redigiert. Außerdem erschienen Kalender (z. B. „Der arme Konrad“) und Flugschriften in großer Zahl. Sehr förderlich für die Verbreitung der sozialistischen Druckschriften war der Umstand, daß der Preis derselben sehr niedrig bemessen war, was zum Teil durch Massenabsatz, zum Teil dadurch ermöglicht wurde, daß die für Herausgabe und Vertrieb beschäftigten Kräfte nicht hoch bezahlt wurden. Mit Erlaß des Sozialistengesetzes ging die sozialdemokratische Presse in Deutschland ein. Versuche, Blätter und Broschüren unter einem andern unverfänglichen Titel erscheinen zu lassen, schlugen anfangs vollständig fehl, erst Ende der 80er Jahre hatten dieselben mehr Erfolg. Es erschienen:
Politische Blätter: | Gewerkschaftsblätter: | ||||
wöchentlich | 1890 | 1891 | wöchentlich | 1890 | 1891 |
sechsmal | 10 | 28 | dreimal | 1 | 1 |
dreimal | 25 | 25 | einmal | 17 | 26 |
zweimal | 6 | 6 | monatlich: | ||
einmal | 10 | 10 | dreimal | 2 | 4 |
Zusammen: | 51 | 69 | zweimal | 20 | 20 |
einmal | 2 | 4 | |||
Zusammen: | 42 | 55 |
Außerdem erscheint wöchentlich als wissenschaftliche Revue „Die Neue Zeit“ (Stuttg., seit 1883, bis 1890 als Monatsschrift). Dieselbe wird von K. Kautsky redigiert und zählt die hervorragendsten Mitglieder der Partei, neben Deutschen auch Ausländer, unter ihren Mitarbeitern. Ferner erscheinen noch wöchentlich ein Unterhaltungsblatt: „Der Gesellschafter“, und alle 14 Tage zwei Witzblätter: „Der wahre Jakob“ und „Der süddeutsche Postillon“.
Den von vielen Seiten her geäußerten Wünschen nach neuen Lokalblättern und nach Unterstützung von solchen konnte nicht Rechnung getragen werden; vielmehr hatte der 1890 in Halle abgehaltene Parteitag den Parteigenossen empfohlen, bei Gründung von neuen Blättern möglichst Vorsicht walten zu lassen und solche Unternehmungen unter keinen Umständen zu gründen, bevor sie nicht genau erwogen und sich überzeugt hätten, daß die Möglichkeit der Existenz des Unternehmens aus eignen Mitteln gegeben und daß vor allem auch die notwendigen geistigen, technischen und administrativen Kräfte zur Leitung eines Blattes vorhanden seien. Auch vom 1891er Parteitag wurde auf Grund der im letzten Jahre gesammelten Erfahrungen der Wunsch ausgesprochen, es möchten die im Beschlusse von 1890 aufgestellten Grundsätze auch weiterhin beachtet werden.
Zur Förderung des Vertriebes und der Neuherausgabe der Parteilitteratur wurde eine eigne Parteibuchhandlung unter dem Titel „Vorwärts“ in Berlin ins Leben gerufen. Dieselbe befaßt sich insbesondere auch mit der Herausgabe des Textes von für die Arbeiter wichtigen Gesetzen. Diese Aufgabe hatte sich vor 1878 die in Berlin herausgegebene sozialdemokratische „Freie Presse“ gestellt, welche in einer für die Leser dankenswerten Weise wichtigere Gesetze mit kurzer, allerdings vom einseitigen Parteistandpunkte diktierter Kommentierung als Gratisbeilagen einzelnen Nummern beigab.
Bis 1878 verfügte die sozialdemokratische Partei über eine große Zahl Agitatoren, deren Hauptthätigkeit darin bestand, die sozialdemokratischen Grundsätze in öffentlichen Versammlungen zu vertreten, neue Mitglieder zu gewinnen, überhaupt für die Partei zu wirken. Man zählte deren zuletzt 68, von denen 54 ganz, 14 nur zum Teil besoldet waren. Dazu kamen noch über 80 unbesoldete Agitatoren, welche ihren Lebensunterhalt als Redakteure, durch litterarische Arbeiten und anderweit verdienten und nicht ihre ganze Kraft der mündlichen Propaganda widmen konnten. Neuerdings hat man davon Abstand genommen, redegewandte Mitglieder als ständige Agitatoren anzustellen. Dieses System habe mancherlei Mißstände im Gefolge gehabt und sei früher nur deswegen angewandt worden, weil es damals vielfach in ganzen Provinzen an Personen gefehlt habe, deren soziale Stellung so unabhängig gewesen sei, daß sie ihre Zeit der Partei nach Bedarf hätten zur Verfügung stellen können. Dies Verhältnis habe sich jetzt insofern zu gunsten der Partei geändert, als die Zahl der sozialdemokratischen Preßorgane sich bedeutend vermehrt habe und unter den an denselben beschäftigten Personen sich fast immer einer oder mehrere Parteimitglieder befänden, welche des Wortes mächtig und zur Agitation in Versammlungen geeignet seien. Die Parteileitung hatte für diese Agitation an eine Anzahl geeigneter Kräfte regelmäßige Zuschüsse bezahlt, und es wird beabsichtigt, diese Einrichtung zum Zwecke einer wirksamen Propaganda noch weiter auszubilden.