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MKL1888:Lassalle

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Lassalle“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 532533
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Lassalle. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 532–533. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Lassalle (Version vom 02.04.2025)

[532] Lassalle, Ferdinand, hervorragender deutscher Gelehrter und Begründer der Sozialdemokratie in Deutschland, wurde 11. April 1825 zu Breslau geboren als Sohn eines reichen israelitischen Seidenhändlers, Lassal (Ferdinand L. schrieb sich „Lassalle“ erst nach einem Pariser Aufenthalt im J. 1846), der ihn für den Handelsstand bestimmt hatte und deshalb auf die Leipziger Handelsschule schickte. Aber L. hatte keine Neigung für den kaufmännischen Beruf, er wollte sich der Wissenschaft widmen. Nach zwei Jahren verließ er im Sommer 1841 heimlich Leipzig, bereitete sich dann mit eisernem Fleiß in kurzer Zeit auf das Abiturientenexamen vor, bestand dieses, überraschte damit seinen Vater und studierte nun auf den Universitäten Breslau und Berlin Philosophie, Philologie und Archäologie. Seine hohe Begabung, seine ungewöhnlichen Kenntnisse, sein ernstes wissenschaftliches Streben erregten die Aufmerksamkeit seiner akademischen Lehrer; früh trat er in engere freundschaftliche Beziehungen zu hervorragenden Gelehrten, so namentlich in Berlin zu A. Böckh, A. v. Humboldt u. a. Heine, den er in Paris 1846 kennen lernte, entwarf eine glänzende Schilderung von den Talenten, der Energie und dem sichern, selbstbewußten Auftreten des jungen L. L. wurde ein begeisterter Anhänger der Hegelschen Philosophie. Schon während seiner Universitätszeit arbeitete er an einem Werk über den griechischen Philosophen Heraklit, mit dem er seine wissenschaftliche Laufbahn beginnen wollte. Aber seine Studien wurden dadurch unterbrochen, daß er im Winter 1844/45 in Berlin die Gräfin Sophie Hatzfeldt kennen lernte. Die Gräfin, eine Tochter des Fürsten Hatzfeldt-Trachenberg, damals fast 40 Jahre alt, aber noch eine schöne und imposante Erscheinung, eine geistreiche Frau, war in einer traurigen Lage. Im Alter von 16 Jahren war sie zu einer Konvenienzheirat mit dem mißgestalteten reichen Grafen Edmund von Hatzfeldt-Weisweiler gezwungen worden. Die Ehe war eine sehr unglückliche. Die fortgesetzte schlechte Behandlung von seiten ihres Gemahls hatte die Gräfin veranlaßt, sich von demselben zu trennen. Als L. sie kennen lernte, hatte ihr der Graf, während er mit Mätressen ein ungeheures Vermögen verschwendete, jede Unterstützung versagt und wollte ihr auch das einzige Kind, das man ihr gelassen hatte, den jungen Grafen Paul (s. Hatzfeldt 4), entreißen. Das Unglück der schönen, von ihren Verwandten verlassenen Frau ging dem jungen, ritterlich gesinnten L. zu Herzen. Sein Rechtsgefühl empörte sich, seine trotzige Kampflust erwachte. Er bot der Gräfin sein Vermögen und seine Dienste an und begab sich nun mit ihr nach der Rheinprovinz, um dort den Kampf gegen den Grafen aufzunehmen. Fast zehn Jahre lang hat er denselben geführt und schließlich siegreich durchgefochten. 1851 wurde die Ehe geschieden, der Graf für den schuldigen Teil erklärt. Aber auch nach der Ehescheidung waren noch viele Prozesse wegen der Vermögensauseinandersetzung zu führen. Sie endeten damit, daß die Gräfin ein großes Vermögen erhielt. L. und die Gräfin lebten dann bis zu seinem Tod fortwährend an denselben Orten und in dem engsten freundschaftlichen Verkehr. In jenem Kampf wurde L. auch in einen Kriminalprozeß, der seiner Zeit viel Aufsehen machte, verwickelt. Zwei Freunde von L. und der Gräfin, Doktor Mendelssohn und Assessor Oppenheim, hatten im August 1846, um in den Besitz eines Kontrakts zu gelangen, durch welchen der Graf Hatzfeldt seiner Mätresse, der Baronin von Meyendorff, eine jährliche Rente von 25,000 Frank ausgesetzt hatte, im Mainzer Hof zu Köln sich einer Kassette der Baronin bemächtigt. Oppenheim hatte die Kassette von dem Reisegepäck der Baronin genommen und Mendelssohn übergeben, der sie in seinem Koffer unterbrachte. Gleich darauf mußten sie ihre Beute, die das gesuchte Aktenstück nicht enthielt, im Stiche lassen und flüchten. Zuerst wurde Oppenheim 1846 wegen Diebstahls angeklagt, aber freigesprochen. Darauf wurde noch im J. 1846 Mendelssohn wegen Teilnahme am Diebstahl angeklagt und nach langen Verhandlungen im Februar 1848 verurteilt. Auf Grund der Aussage eines bestochenen Zeugen wurde nun auch L. als „intellektueller Urheber des Diebstahls“ im März 1848, nachdem er schon 1847 deshalb kurze Zeit inhaftiert gewesen, in Untersuchungshaft genommen, in den Anklagestand versetzt, aber nach einer glänzenden Verteidigungsrede 11. Aug. 1848 freigesprochen („Der Kriminalprozeß wider mich wegen Verleitung zum Kassettendiebstahl etc.“, Köln 1848; „Meine Verteidigungsrede wider die Anklage der Verleitung zum Kassettendiebstahl etc.“, das. 1848). Aus dem Gefängnis entlassen, stürzte sich L. in die politische Agitation. Seine Anschauungen waren die der radikalen Demokratie. Unter den Führern derselben nahm er sofort neben Marx, Freiligrath, Becker etc. einen hervorragenden Platz ein, durch den Verkehr mit Marx wurde er auch zum Sozialisten. Wegen einer zu Neuß gehaltenen Rede 22. Nov. 1848 verhaftet und angeklagt, die Bürger zur Bewaffnung gegen die königliche Gewalt aufgereizt zu haben, wurde er nach sechsmonatlicher Untersuchungshaft 3. Mai 1849 von den Geschwornen zu Düsseldorf freigesprochen. Die „berühmte“ Assisenrede („Meine Assisenrede etc.“, Düsseld. 1849) ist von L. nicht gehalten worden. Die Rede war schon vorher gedruckt worden. Als L. auf Anfrage des Präsidenten bejahte, daß er diese Rede zu halten beabsichtige, wurde, weil man Unruhen befürchtete, die Öffentlichkeit ausgeschlossen; infolgedessen erklärte L. nach einem glänzenden und wirkungsvollen Plaidoyer über diese Maßregel, daß er es unter seiner Würde halte, sich vor diesem Gerichtshof zu verteidigen, und richtete nur an die Geschwornen die Bitte, ihn freizusprechen. Trotz der Freisprechung wurde aber L. nicht aus dem Gefängnis entlassen, sondern jetzt wegen derselben Rede eines geringern Vergehens, die Bürgerwehr zur Widersetzlichkeit gegen die Beamten aufgefordert zu haben, angeklagt und vom Korrektionstribunal 5. Juli 1849 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Beendigung der Hatzfeldtschen Prozesse (1854) widmete sich L., zuerst in Düsseldorf, dann in Berlin, wohin er 1857 übersiedelte, wissenschaftlichen Studien. Die Frucht derselben waren zwei größere Werke, welche durch die Originalität der Auffassung und scharfsinnige Kritik bisheriger Lehrmeinungen dem Verfasser in der Gelehrtenwelt einen geachteten Namen verschafften. Das eine: „Die Philosophie Herakleitos’ des Dunklen von Ephesos“ (Berl. 1858, 2 Bde.), gehört dem Gebiet der Geschichte der Philosophie an, das andre: „Das System der erworbenen Rechte, eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie“ (Leipz. 1860, 2 Bde.; 2. Aufl. 1880), ist rechtsphilosophischer Art, aber zugleich eine wissenschaftliche Verteidigung der radikalen politischen Grundanschauungen Lassalles. Zwischendurch erschien auch sein historisches Trauerspiel „Franz von Sickingen“ [533] (Berl. 1859), ein Werk voll kühner, genialer Gedanken trotz aller Schwächen in ästhetischer und formaler Beziehung und von hohem Interesse durch die deutschnationale Gesinnung des Dichters, eines begeisterten Anhängers des deutschen Einheitsstaats. Diese Gesinnung tritt noch stärker hervor in der während des italienischen Kriegs erschienenen Broschüre „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens“ (Berl. 1859), in welcher er die preußische Neutralität Frankreich gegenüber billigte, aber riet, Preußen solle den günstigen Augenblick der Beschäftigung seiner Gegner benutzen, gegen Dänemark vorgehen, um Schleswig-Holstein zu erobern, den Dualismus in Deutschland beseitigen und die deutschen Stämme mit Ausschluß Österreichs unter einer nationalen demokratischen Regierung einigen, ebenso in der Abhandlung „Fichtes politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart“ (in Walesrodes „Demokratischen Studien“, Hamb. 1860) und in seiner Festrede auf Fichte 19. Mai 1862: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes“ (Berl. 1862), in denen er als die höchste und wichtigste Aufgabe der Gegenwart die Herstellung eines deutschen Einheitsstaats unter Preußens Führung bezeichnete und die Frage der Freiheit hinter die der Einheit stellte. Im März 1862 erschien als eignes Buch eine Kritik der Julian Schmidtschen Litteraturgeschichte, zu dem auch der L. nahe befreundete Lothar Bucher als „Das Setzerweib“ Beiträge geliefert hat („Herr Julian Schmidt, der Litterarhistoriker“, Berl. 1862). In der Konfliktszeit versuchte L. die Fortschrittspartei zum passiven Widerstand, zur Niederlegung des Mandats in Masse, zu bewegen und hielt auch in diesem Sinn öffentliche Vorträge: „Über Verfassungswesen“ (Berl. 1862), „Was nun?“ (das. 1862). Da die Fortschrittspartei diese Politik verwarf, glaubte L. die Zeit gekommen, eine eigne demokratische Partei bilden zu können. Er versprach sich einen Erfolg aber nur bei einem Programm, das zugleich Vorschläge über die Lösung der sozialen Frage enthielte. Zu diesem Zweck hielt er 12. April 1862 in einer großen Arbeiterversammlung einen Vortrag: „Über den besondern Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“ (gedruckt u. d. T.: „Arbeiterprogramm“, Berl. 1862). Auf Grund dieses Vortrags wurde L. wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffentliche Anreizung der Angehörigen des Staats zum Haß gegeneinander angeklagt und 16. Jan. 1863 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber in zweiter Instanz freigesprochen. Anläßlich dieses Prozesses veröffentlichte L. folgende Schriften: seine Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter“ (Zürich 1863), „Der Lassallesche Kriminalprozeß“ (das. 1863), „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen“ (das. 1863). Sein Auftreten für die Arbeiterklasse veranlaßte 10. Febr. 1863 ein Arbeiterkomitee in Leipzig, welches damals einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß berufen wollte, sich an L. zu wenden und seine Ansicht über den Kongreß und über die Arbeiterfrage zu erbitten. L. antwortete nach 14 Tagen in einer Broschüre: „Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee etc.“ (Zürich 1863), in welcher er sein sozialistisches Programm entwickelte. Er riet dem Komitee, dies Programm, dessen Hauptpunkt die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe des Staatskredits war, anzunehmen, den Kongreß nicht zu halten, aber einen allgemeinen deutschen Arbeiterverein zu gründen, der sich zunächst nur die eine Aufgabe stelle, für das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung zu agitieren, um, wenn dies erreicht sei, mit Hilfe des Stimmrechts die Macht im Staat für den Arbeiterstand zu erlangen und dann das sozialistische Programm durchzuführen. Das Komitee folgte dem Rat, L. wurde von ihm veranlaßt, in Leipzig 16. April (Lassalles Rede „Zur Arbeiterfrage“), in Frankfurt 17. und 19. Mai („Arbeiterlesebuch“, Frankf. a. M.) und andern Orten zu sprechen, am 23. Mai 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in Leipzig mit etwa 600 Mitgliedern gegründet und L. zum Präsidenten gewählt. In dieser Stellung entfaltete er eine umfassende agitatorische Thätigkeit, aber seine Erfolge waren sehr gering. Kaum einige tausend Arbeiter gelang es ihm zu gewinnen. Sein Hauptkampf war gegen Bourgeoisie und Liberalismus gerichtet. Dieser Kampf verwickelte L. in eine Reihe von Kriminalprozessen, schließlich sogar in einen Hochverratsprozeß auf Grund einer gedruckten Ansprache: „An die Arbeiter Berlins“ (Berl. 1863), in welcher er ausführte, daß die oktroyierte preußische Verfassung nicht zu Recht bestehe, und die Arbeiter aufforderte, in den Verein zu treten, um diese Verfassung zu stürzen. Er wurde in diesem Prozeß 12. März 1864 freigesprochen, aber in andern verurteilt. Die Agitation hatte Lassalles Gesundheit zerrüttet. Zur Stärkung derselben ging er, nachdem er noch im Mai 1864 am Rhein in den ihm ergebenen Arbeiterdistrikten einen Triumphzug gehalten, im Juni 1864 nach der Schweiz. L. traf dort mit Helene v. Dönniges, der Tochter eines bayrischen Diplomaten, zusammen, welche, ihm selbst schon von früher her bekannt, damals mit einem Walachen, Janko von Rakowitz, verlobt war. Sein Verhältnis zu dieser Dame führte zu einem Pistolenduell zwischen L. und Rakowitz in Genf 28. Aug. 1864, in welchem L. tödlich verwundet wurde. Er starb 31. Aug. 1864. – Außer den erwähnten Agitationsschriften erschienen noch: „Macht und Recht“ (Zürich 1863); „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag“ (Düsseld. 1863); „Der Hochverratsprozeß wider Ferdinand L. etc.“ (Berl. 1864); „Die Agitation des allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ etc.; Lassalles letzte Rede (das. 1864) und Lassalles letztes wissenschaftliches Werk: „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit“ (das. 1864), eine Polemik gegen die manchesterlichen Anschauungen über die soziale Frage und der Versuch, seinen sozialistischen Standpunkt wissenschaftlich zu begründen. Vgl. B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation F. Lassalles (Braunschw. 1874); G. Brandes, Ferdinand L. (Berl. 1877); A. Aaberg, Ferdinand L. (Leipz. 1883); E. v. Plener, L. (das. 1884).