MKL1888:Kyklische Dichter
[366] Kyklische Dichter (Kykliker, Cyclici), eine Reihe altgriechischer Epiker aus der ionischen Schule, welche während der ersten 50 Olympiaden nach Homer die verschiedenen Kreise der um den Mittelpunkt der Homerischen Poesie herumlagernden Götter- und Heldensagen poetisch bearbeiteten und zwar in einer sich an Homer aufs engste anschließenden Form, doch ohne dessen Geist. Merkwürdig sind sie besonders darum, weil die Tragiker größtenteils aus ihnen ihre Stoffe entlehnten, und weil von ihnen hauptsächlich die Veränderungen der Mythen zu stammen scheinen, die wir bei jenen wahrnehmen. Man befaßte sie unter dem Namen der kyklischen Dichter, weil die wichtigsten ihrer Dichtungen später mit Ilias und Odyssee zu einem epischen Kyklos, d. h. einem epischen Sagenkreis, zusammengestellt waren, welcher eine vollständige Übersicht der Götter- und Heroenmythen von der Verbindung des Uranos und der Gäa bis herab zum Tode des Odysseus durch seinen Sohn Telegonos gab. Außer den Homerischen Gesängen haben sich von diesen Dichtungen nur einzelne Verfassernamen, Titel und Fragmente erhalten. Genauer sind wir durch die Chrestomathie des Grammatikers Proklos (um 150 n. Chr.) nur über den troischen Sagenkreis unterrichtet. Die Einleitung der Ilias bildeten die „Kypria“ des Stasinos von Salamis auf Cypern (um 770 v. Chr.), welche in elf Büchern die Ereignisse von der Hochzeit des Peleus bis zum Beginn der Ilias erzählten, die Fortsetzung die „Äthiopis“ des Arktinos von Milet (aus derselben Zeit) in fünf Büchern, von den Kämpfen mit den Amazonen und dem Äthiopen Memnon und dem Tode des Achilleus, und die „Zerstörung Ilions“ („Iliu persis“) von demselben Dichter in zwei Büchern. Die Ereignisse vom Streit um die Waffen des Achilleus bis zur Einführung des hölzernen Rosses in Troja berichtete die „Kleine Ilias“ des Lesches von Mytilene (um 672) in vier Büchern. Den Übergang zur Odyssee vermittelten die „Nosten“ (Heimfahrten der Helden von Troja) des Agias von Trözen in fünf Büchern; eine unmittelbare Fortsetzung der Odyssee war die „Telegonie“ des Eugammon von Kyrene (um 570) in zwei Büchern, von der Bestattung der Freier bis zum Tode des Odysseus. Welche Gedichte außerdem zum Kyklos gehörten, läßt sich nicht ermitteln. Wahrscheinlich ist es von einer „Titanomachie“ des genannten Arktinos oder des Eumelos von Korinth, einer „Ödipodie“ des Kinäthon von Lakedämon, einer auch „Amphiaraos’ Auszug“ betitelten „Thebais“, an die sich ein die „Epigonen“ betiteltes Gedicht anschloß, einer sehr alten Dichtung von der „Einnahme Öchalias“ durch Herakles, für deren Verfasser Kreophylos, der angebliche Schwiegersohn Homers, galt, u. a. Wie schon bemerkt, waren die kyklischen Gedichte den griechischen Tragikern und allen nachfolgenden Dichtern eine reiche Fundgrube; ja, in der römischen Kaiserzeit scheinen sie sogar zum Studium der Mythengeschichte benutzt worden zu sein, so daß selbst die Künstler den Inhalt derselben durch bildliche Darstellung anschaulich zu machen suchten. Unter andern befindet sich noch jetzt eine solche Tafel (marmor Borgianum) in Neapel, eine andre, die berühmteste von allen, die sogen. Ilische Tafel (Basrelief mit Inschriften), im Museo capitolino zu Rom. Vgl. Welcker, Der epische Cyklus oder die Homerischen Dichter (Bonn 1835–49, 2 Bde.; 1. Bd., 2. Aufl. 1865); Düntzer, Homer und der epische Kyklos (Köln 1839); O. Jahn, Griechische Bilderchroniken (Bonn 1873).