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MKL1888:Demokratie

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Demokratie“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Demokratie“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 4 (1886), Seite 666667
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Demokratie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 666–667. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Demokratie (Version vom 05.04.2025)

[666] Demokratie (griech., „Volksherrschaft“) bezeichnet sowohl eine Staatsform als eine politische Partei und Parteirichtung, wie denn auch die Ausdrücke Demokrat (Angehöriger der D.) und demokratisch (die D. betreffend, auf die D. bezüglich) in dieser zweifachen Bedeutung gebraucht werden. Das Wesen der demokratischen Staatsbeherrschungsform besteht darin, daß die Staatsgewalt verfassungsmäßig der Gesamtheit der Staatsangehörigen zusteht. Die D. als Staatsform findet sich zuerst in Griechenland, wo sie die Herrschaft des Demos, d. h. die den freien Vollbürgern zustehende Staats- und Regierungsgewalt, bedeutete. Hat man dagegen das demokratische Streben (Demokratismus) im Auge, so versteht man unter D. diejenige Parteirichtung oder die Angehörigen derjenigen Partei, welche dem Volkswillen in der Gesetzgebung und in der Verwaltung des Staats eine entscheidende Bedeutung eingeräumt wissen will. Es ist dabei keineswegs notwendig, daß solche Parteibestrebungen die Staatsform der D. zum Endziel haben; sie können vielmehr auch in dem Rahmen der Monarchie sich geltend machen. Was die D. als Staatsform anbetrifft, so ist die Dreiteilung der Staatsbeherrschungsformen in Monarchie, D. und Aristokratie auf Aristoteles zurückzuführen. Eigentlich gehört dazu auch noch die Theokratie, d. h. die im Altertum bei den Israeliten bestehende Staatsbeherrschungsform, bei welcher die Gottheit selbst als das Oberhaupt des Staats, welches durch die Priester herrschte, aufgefaßt wurde; eine Idee, an die sich auch in den mohammedanischen Staaten gewisse Anklänge vorfinden. Jene Dreiteilung wird aber von vielen dadurch beseitigt, daß sie die Staatsverfassungsformen auf nur zwei Kategorien zurückführen, je nachdem sich die Staatsgewalt in der Hand eines Einzelnen oder einer Mehrheit von Personen befindet. In der Monarchie erscheint nämlich ein Einzelner als Regierender, während alle übrigen Staatsangehörigen Regierte sind. In der Republik, unter welcher Bezeichnung D. und Aristokratie zusammengefaßt werden, ist das Volk oder doch eine bevorzugte Klasse desselben der Regierende, die Einzelnen als solche sind die Regierten. Die Monarchie bedeutet die Fürstensouveränität, die Republik die Volkssouveränität. In der demokratischen Republik besteht vollständige Gleichheit und Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen, deren Gesamtheit die regierende Macht im Staate darstellt, welcher die Einzelnen als solche unterworfen sind. In der Aristokratie dagegen wird diese Herrschaft durch einen bevorzugten Stand oder eine bevorzugte Klasse der Staatsangehörigen ausgeübt, und die Angehörigen dieser Klasse, welche das Volk repräsentieren, stellen sich in ihrer Gesamtheit als die Regierenden dar, während sie in ihrer Einzelstellung ebenfalls als Regierte erscheinen. Im Zusammenhang mit jener Dreiteilung des Aristoteles, welche sich übrigens auch in den Schriften Ciceros findet, pflegt man als deren Ausschreitungen und zwar als diejenige der Alleinherrschaft die Tyrannis oder Despotie (Willkürherrschaft), als die Ausartung der Aristokratie die Oligarchie, d. h. die Herrschaft einiger besonders reicher oder vornehmer Personen, und als Ausschreitung der D. endlich die Ochlokratie, die Herrschaft der rohen Masse des Pöbels, zu bezeichnen.

Die D. insbesondere ist entweder eine unmittelbare, auch autokratische genannt, oder eine mittelbare, repräsentative. In jener regiert das Volk nicht bloß durch die Männer seiner Wahl, sondern es übt die wichtigsten Rechte der staatlichen Machtvollkommenheit unmittelbar selbst aus, während in dieser das Volk nur indirekt durch die von ihm gewählten Vertreter herrscht. Dabei liegt es aber in der Natur der Sache, daß die unmittelbare D. nur in einem kleinen Staatsgebiet möglich ist, wie sich denn dieselbe heutzutage nur noch in einigen kleinen Schweizer Kantonen findet. Anders im Altertum, welchem unser heutiges Repräsentativsystem, dessen Ausbildung das große Verdienst der englischen Nation ist, völlig fremd war. Die alte Welt kannte nur die unmittelbare D., weshalb die letztere auch von manchen Publizisten und namentlich von Bluntschli die antike, die repräsentative dagegen die moderne D. genannt wird. Wie der spartanische Staat und die altrömische Republik das Muster einer Aristokratie, so war Athen das Muster dieser unmittelbaren oder antiken D. Die Volksbeschlüsse waren hier für das gesamte Staatsleben maßgebend, und die völlige Gleichstellung aller freien Staatsgenossen ging in Athen so weit, daß bei der Wahl der Beamten des Freistaats nicht die persönliche Tüchtigkeit, sondern das blinde Los entschied, und daß man völlig unbescholtene, ja um das Vaterland hochverdiente Männer, deren Übergewicht gefürchtet ward, dem Grundsatz der allgemeinen Gleichheit opferte und durch geheime Abstimmung, den Ostrazismus, verbannte. In dieser völligen Gleichstellung aller Bürger lag aber auch der Keim zu dem Verfall Athens, denn die Erfahrung hat gezeigt, daß die schrankenlose Gleichberechtigung aller leicht zu einem verderblichen Dünkel und zu einer verhängnisvollen Selbstüberhebung und Überschätzung der Massen führt, daß die Herrschaft der vielköpfigen und veränderlichen Menge regelmäßig zu politischen Schwankungen und zur Bildung entgegengesetzter Parteien, schließlich aber zur Gewaltherrschaft einzelner ehrgeiziger Männer, zur Despotie, führt. Daher konnte Polybios es mit Recht als das Naturgesetz der Staaten bezeichnen, daß auf die D. die Despotie folge, und die moderne Geschichte Frankreichs zeigt uns, daß dieser Satz nicht bloß für das Altertum zutreffend war. Für die repräsentative D., wie sie uns gegenwärtig in den meisten Schweizer Kantonen und nun auch in Frankreich, vor allem aber in den Vereinigten Staaten Nordamerikas entgegentritt, [667] liegt jene Gefahr weniger nahe. Hier herrscht das Volk nur mittelbar durch die von ihm periodisch gewählten Vertreter, zu denen die tüchtigsten Kräfte und die Besten aus dem Volk herangezogen werden sollen, so daß man die repräsentative D. nicht mit Unrecht eine Wahlaristokratie genannt hat. Wird es dann zur Wahrheit, daß die Tugend, nach Montesquieu das Prinzip der D., das bestimmende Moment für das politische Leben des Volkes und seiner Vertreter wird, dann kann sich der Staat auf der breiten Basis der Gleichheit aller Staatsbürger zu jener hohen Blüte und die Vaterlandsliebe der Staatsgenossen zu jener großartigen Opferfreudigkeit erheben, wie sie sich in der nordamerikanischen Union gezeigt hat. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß in dem europäischen Staatsleben das monarchische Prinzip zu fest gewurzelt zu sein scheint, als daß die D. hier auf die Dauer Boden gewinnen könnte, wenn man auch nicht so weit gehen will wie Dahlmann, der es als „Unsinn und Frevel“ bezeichnete, wollte man unsern von monarchischen Ordnungen durchdrungenen Weltteil in Republiken des Altertums umwandeln. Zudem haben wir in der konstitutionellen Monarchie diejenige Staatsform gefunden, welche unbeschadet des monarchischen Prinzips auch dem Volk seinen Anteil an der Staatsverwaltung und an der Gesetzgebung sichert. Dem aristokratischen Prinzip dagegen ist die moderne Zeitrichtung nicht günstig, während demokratische Grundsätze in unserm Staatsleben mehr und mehr zur Geltung gelangt sind. Dahin gehören insbesondere die Rechtsprechung in Strafsachen durch Volksgenossen, die Selbstverwaltung der Gemeinden, die Mitwirkung des Volkes durch seine Vertreter bei der Gesetzgebung und im Deutschen Reich wie in einzelnen deutschen Staaten neuerdings auch das allgemeine Stimmrecht. Die konstitutionelle Monarchie selbst charakterisiert sich als eine Verbindung des monarchischen und des demokratischen Prinzips, indem sie der Volksvertretung das Steuerbewilligungsrecht, das Recht der Kontrolle der Staatsfinanzverwaltung und damit der Verwaltung überhaupt und vor allen Dingen das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung einräumt. Der Volkswille kommt hier durch die Volksvertreter in bestimmender Weise zur Geltung. Die Souveränität aber bleibt dem Monarchen. Sie findet in der Unverantwortlichkeit desselben ihren Ausdruck; aber seine Anordnungen auf dem Gebiet der Staatsverwaltung und der Gesetzgebung bedürfen der Gegenzeichnung des Ministers, welcher die Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung zu übernehmen hat. Man hat daher die konstitutionelle Monarchie auch wohl eine demokratische Monarchie genannt und von demokratisch-konstitutionellen Monarchien gesprochen.

Freilich ist der Umstand, daß man seit langer Zeit gewöhnt ist, den Ausdruck D. als die Bezeichnung einer Staatsform zu gebrauchen, geeignet, über das Wesen der D. als politischer Parteirichtung Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Man denkt sich die demokratische Partei schlechthin mit dem Endziel einer Republik, einer D. als Staatsform, während sich in den letzten Jahrzehnten nicht wenige Politiker als Demokraten bezeichneten, welche an dem monarchischen Prinzip festhielten. Auch jetzt nennen sich z. B. die Angehörigen der süddeutschen Volkspartei Demokraten, ohne damit die Beseitigung der Monarchie als ihr Endziel bezeichnen zu wollen. Auch in Preußen haben neuerdings Liberale die Parteibezeichnung der D. wieder aufgenommen (Philipps, Lenzmann u. a.), ohne etwa die Monarchie abschaffen zu wollen, wie denn auch 1848 der Führer der preußischen Demokraten, Benedikt Waldeck, die konstitutionelle Monarchie als sein Ziel bezeichnete. Waldeck formulierte die damaligen Forderungen der D. folgendermaßen: „Wir Demokraten wollen das Urwählerrecht, Selfgovernment, Gleichheit der Besteuerung und gleiche Rechte vor dem Gesetz“. Jener Umstand, daß man unter D. als politische Partei diejenige versteht, welche den Schwerpunkt in die Verwirklichung des Volkswillens auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Verwaltung des Staats gelegt wissen will, macht es auch erklärlich, daß man selbst in einer demokratischen Republik, also in einem Staat, in welchem die D. als Staatsform zu Recht besteht, gleichwohl von einer besondern Partei der D. sprechen kann. So stehen sich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die beiden großen Parteien der Demokraten und der Republikaner gegenüber. Allerdings wollen die Gegner derjenigen, welche demokratische Prinzipien vertreten, diesen vielfach nicht zugestehen, daß ihre Bestrebungen mit dem monarchischen Prinzip verträglich seien, und man behauptet nicht selten, daß die demokratische Parteirichtung zur D. als Staatsform führen müsse. Die bloße Parteibezeichnung D. schließt dies indessen, wie gesagt, keineswegs in sich, ebensowenig, wie die Bezeichnung „Aristokratie“ für die mehr konservativen Elemente der Nation und für alle diejenigen, welche im öffentlichen Leben eine bevorzugte Stellung einnehmen oder doch einnehmen wollen, die Annahme begründen könnte, daß es sich auf seiten der Angehörigen einer Aristokratie in diesem Sinn um das Streben nach einer aristokratischen Staatsform handle. Anders liegt die Sache allerdings bei der Sozialdemokratie, welche die Errichtung eines freien Volksstaats, also einer Republik, mit sozialer Gleichstellung aller Volksgenossen anstrebt (s. Sozialdemokratie). Daher liegt die Frage nahe, ob es sich nicht empfehlen möchte, die Parteibezeichnung D. für diejenigen, welche an der Monarchie festhalten, ganz fallen zu lassen, da sie nur zu leicht zu Mißverständnissen Veranlassung geben kann. Vgl. außer den Lehrbüchern des Staatsrechts und der Politik: Zöpfl, Die D. in Deutschland (2. Aufl., Stuttg. 1853); Schvarčz, Die D. (Leipz. 1877 ff., Bd. 1); Derselbe, Elemente der Politik (Pest 1880 ff.); May, Democracy in Europe (Lond. 1877, 2 Bde.).