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MKL1888:Blutegel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Blutegel“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 3 (1886), Seite 7173
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Blutegel. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 71–73. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Blutegel (Version vom 31.10.2022)

[71] Blutegel (Discophŏri Gr., Hirudinĕi auct.), Ordnung der Anneliden oder Ringelwürmer, langgestreckte, nicht selten abgeflachte Würmer mit großer Haftscheibe am hintern Leibesende und meist noch einer kleinern Sauggrube vor oder in der Umgebung der Mundöffnung. Die für die meisten Ringelwürmer charakteristischen Borsten und Fußstummel fehlen. Die schmalen, äußerlich sichtbaren Ringel sind nicht die eigentlichen Segmente, vielmehr bilden erst vier oder fünf Ringel ein solches. Der Kopf ist niemals scharf gesondert, die Mundöffnung liegt in der Nähe des vordern Körperendes und leitet in einen muskulösen Schlund, der entweder mit drei bezahnten Kieferplatten bewaffnet oder als Rüssel mehr oder minder weit vorstülpbar ist. Der vom Schlund aus beginnende Magendarm bildet ein gerade gestrecktes Rohr und führt in einen kurzen Enddarm, welcher oberhalb der hintern Sauggrube in die Afteröffnung mündet. Zahlreiche Drüsen unter der Haut sondern eine schleimige Flüssigkeit ab, während tiefer liegende Drüsen ein zähes, helles, außerhalb des Körpers rasch erstarrendes Sekret abscheiden. Auf der Rückenfläche der vordern Ringel stehen in einer Bogenlinie paarweise hintereinander die Augen, welche aber wohl nur Hell und Dunkel wahrnehmen können; auch eine Art Geschmacksorgan ist vorhanden. In Betreff des Nervensystems, der Zirkulations- und Exkretionsorgane s. Anneliden. Alle B. sind Zwitter und begatten sich, wie es scheint, zum Teil in Wechselkreuzung; die männliche Öffnung liegt beim medizinischen B. zwischen dem 24. und 25. Ring, die weibliche zwischen dem 29. und 30. Zur Ablage der Eier, welche vorher im Innern des Körpers befruchtet worden sind, suchen sich die Tiere geeignete Stellen an Steinen und Pflanzen auf oder wühlen sich in feuchte Erde ein, heften sich dann mit der Bauchscheibe fest und umhüllen den Vorderleib mit einer schleimigen Masse, welche allmählich zu einer festern Hülle erstarrt. Dann treten aus den Geschlechtsorganen eine Anzahl kleiner Eier und eine ansehnliche Menge Eiweiß aus, und der Wurm zieht sein Kopfende aus der nun gefüllten tonnenförmigen Hülle heraus, welche sich zu einem ziemlich vollständig geschlossenen Kokon gestaltet. Wenn die jungen B. ihn verlassen, haben sie bereits eine ziemlich ansehnliche Länge (beim medizinischen B. von ungefähr 2 cm) und bis auf die mangelnde Geschlechtsreife die Organisation der ausgewachsenen Tiere. – Die B. leben großenteils im Wasser, bewegen sich teils kriechend mit Hilfe der Haftscheiben, teils schwimmend. Viele leben parasitisch außen an Fischen und Krebsen; die

a Kopf des Blutegels mit aufgeschnittener Mundhöhle, K die drei Kiefer. b Eine Kieferplatte mit ihren Zähnen am Rand.

meisten aber suchen nur zur Befriedigung ihres Nahrungsbedürfnisses die äußere oder innere Haut von Warmblütern auf, heften sich auf ihr an, durchbohren sie mit ihren Kiefern, die wie eine Kreissäge wirken (s. Figur), und saugen sich voll Blut, das meist für lange Zeit ausreicht. Einige Arten, wie der Pferdeegel, verzehren Schnecken und Regenwürmer.

Man unterscheidet drei Familien: die Rüsselegel (Rhynchobdellidae), Kiemenegel (Branchiobdellidae) und Kieferegel (Gnathobdellidae). Zur letztern (mit drei häufig gezahnten Kieferplatten im Schlund und einem eine Art Mundsaugnapf bildenden, geringelten, löffelförmig vorspringenden Kopfschirm vor der Mundöffnung) gehört die Gattung B. (Hirudo L., Sanguisuga Sav.), mit 80–100 Ringen und 5 Paar Augen. Die 25–30 Arten greifen vielleicht alle den Menschen an und bilden zum Teil, besonders in tropischen Gegenden, eine förmliche Landplage. Der offizinelle B. (H. medicinalis L.) wird spannenlang und ist im kontrahierten Zustand olivenförmig. [72] Die Färbung wechselt so sehr, daß man 64 Varietäten aufgezählt hat, von denen die häufigsten der deutsche B. (H. medicinalis Sav.), mit sechs rostroten Längsbinden auf dem Rücken, und der ungarische B. (H. officinalis Sav.), mit vier roten oder braunen Längsbinden, sind. Der offizinelle B. war ursprünglich in ganz Europa, dem südwestlichen Asien und Nordafrika einheimisch, ist aber jetzt in vielen Gegenden, besonders Deutschlands, vollkommen ausgerottet. Der kleinere, zahnärmere Dragoneregel (H. interrupta Moq. Tand.), mit sechs Reihen gelber, schwarz getüpfelter Flecke auf dem Rücken, besonders in Algerien, Italien und Spanien, wird in großer Zahl nach Frankreich, England und Südamerika ausgeführt. Der senegalische Egel (H. mesomelas Virey) wird aus Senegambien nach Frankreich gebracht, absorbiert aber nur halb soviel Blut wie der offizinelle B. Der Pferdeegel (Haemopis vorax Moq. Tand.), mit mehr cylindrischem Körper, auf dem Rücken olivenfarben oder bräunlich, mit sechs Reihen kleiner, schwarzer Flecke, dunklerm Bauch und gelber oder bräunlicher Längsbinde am Rand, bewohnt Gräben und Teiche in Mittel- und Südeuropa, besonders auch in Nordafrika und wird an manchen Orten für Menschen und Vieh gefährlich, indem die jungen Tiere beim Trinken verschluckt werden und sich dann für längere Zeit im Rachen, am Kehldeckel und in der Luftröhre festsetzen. Gelingt die Entfernung der Egel nicht, so tritt Abmagerung, selbst Schwindsucht ein. Hirudo ceylanica Moq. Tand., ein 3–20 mm langer Landblutegel, findet sich zur Regenzeit überall in Ceylon, mitunter in ungeheuern Schwärmen, und lebt auf der Erde, im Gebüsch und auf Bäumen. Er bewegt sich mit großer Geschwindigkeit, wirft sich aus dem Gras auf seine Opfer oder läßt sich von den Bäumen herabfallen und zwängt sich geschickt durch die Kleidung. Der Biß ist an sich nicht gefährlich, wird es aber bei großer Zahl und schlechter Behandlung durch die lang dauernde Eiterung. Ähnliche Landblutegel finden sich auf den Sundainseln, den Philippinen, in den Nilgiri, im Himalaja, in Südaustralien und Chile.

Die medizinischen B. leben gern in ruhigen Teichen und Sümpfen mit Lehm- oder Thonuntergrund und Pflanzenwuchs, schwimmen am Tag, namentlich bei warmem Wetter, lebhaft umher, rollen sich dagegen bei nebligem und kaltem Wetter zusammen. Im Herbst vergraben sie sich so tief wie möglich im Schlamm. Die Fortpflanzung geschieht von Mai bis Juli. Nach der Begattung bohren sie Gänge in die feuchte Ufererde über dem Wasserspiegel und formen ihre Kokons von Größe und Gestalt einer Eichel. Jeder enthält 10–16 Eier von 0,15 mm Durchmesser und wird von dem Tier mit einer weißen, schaumigen Masse umgeben, welche durch Eintrocknen schwammig wird. Nach 6 Wochen kriechen die Jungen aus, aber erst nach 3 Jahren sind sie zum medizinischen Gebrauch tauglich; sie erreichen im 5. Jahr ihre volle Größe und können 20 Jahre alt werden. Man züchtet sie in Blutegelteichen, in denen sie vor ihren Feinden (Wasservögel, Hühner, Ratten etc.) geschützt sind und mit kleinen Fischen oder Kaulquappen gefüttert werden. Einige Züchter treiben wohl dem Tod verfallene Pferde, Esel oder Kühe in die Gruben, um Tausende von Egeln zu gleicher Zeit sich an ihnen vollsaugen zu lassen. Im Winter bedeckt man die Gruben mit Tannenzweigen und Laub. Zur Aufbewahrung der B. benutzt man weite, mit Leinwand überbundene Cylindergläser voll weichen Wassers, zur Versendung meist feuchte leinene Säckchen, welche, von feuchtem Moos umgeben, in einem mit feinen Löchern durchbohrten Kistchen liegen. Früher lieferte Deutschland sehr viele B. für den Markt, dann auch Südrußland, Ungarn, Polen. Gegenwärtig ist man meist auf künstliche Zucht angewiesen. Die Stöltersche Anstalt bei Hildesheim vertreibt jährlich fast 31/2 Mill. B. Ein großer Markt für B. ist Paris; auch das südliche Europa, besonders die Gegend an den Donaumündungen, ist reich an Blutegeln, und die Ausfuhr aus Triest soll einen jährlichen Wert von 3 Mill. Frank repräsentieren. Sehr große Mengen sendet Australien nach Europa, besonders nach Paris und London, wo die B. noch immer sehr beliebt sind; die meisten australischen B. konsumiert aber Amerika. – Sehr große Egel saugen nicht selten gegen eine Stunde und nehmen dabei bis zu 10 g Blut auf, kleine von 0,2 g saugen eine Quantität Blut, welche 41/2mal soviel wie ihr eigner Körper wiegt; große lassen aber schon los, wenn ihr Gewicht um das 31/2fache gestiegen ist. Die Verdauung währt bei jungen Blutegeln immerhin 3–5 Monate, bei alten wohl über 11/2 Jahr. Nach 2–4 Monaten beißen die B. zwar wieder an, aber ihre volle Saugkraft erreichen sie erst nach viel längerer Zeit. Der völlig leere B. kann über 2 Jahre fasten.

Der medizinische Gebrauch der B. ist nicht sehr alt. In den Pariser Hospitälern sollen von 1829 bis 1836 jährlich 5–6 Mill. B. verbraucht worden sein, gegenwärtig ist aber die Benutzung wieder sehr zurückgegangen. Die Blutentziehung durch B. unterscheidet sich vom Aderlaß besonders durch ihre Dauer und führt daher nicht jenen Kollapsus herbei, welchen der Blutverlust aus einer großen Aderöffnung zu bewirken pflegt. Die Anwendung der B. ist indiziert: bei Entzündungen aller Art, wo man die kleinen Gefäße entleeren will, auf welche das Aderlassen keinen Einfluß übt, bei Quetschungen und Kongestionen, ferner bei Kindern an Stelle des Aderlasses etc.; zu vermeiden: auf entzündeten und entarteten sowie auf sehr dünnen und leicht verschiebbaren Hautstellen, z. B. an den Augenlidern, sowie an Stellen, unter denen größere Blutgefäße liegen. Auf der Wange erregen B. leicht Rotlauf. Bei sogen. Blutern (s. Bluterkrankheit) vermeidet man das Ansetzen der B. ganz. Die Zahl der B. richtet sich nach der Krankheit, dem Organ und dem Individuum. Erwachsenen setzt man 4–30 Stück auf einmal an, Kindern selten über 6. Die Hautstelle wird von Haaren und anhaftenden Unreinigkeiten sorgfältig befreit, mit kühlem Wasser abgewaschen, mitunter mit Milch, Zuckerwasser oder Blut (am besten aus der unreifen Feder eines Huhns oder einer Taube) benetzt, um die Tiere anzulocken. Zu gewissen Stellen, wie Zahnfleisch, Mandeln, Zunge, wählt man eigne Führungsapparate, gerollte Kartenblätter, Glascylinder u. dgl. Nach dem Ermessen des Arztes werden die B. früher oder später durch Bestreuen mit Salz, Asche, Tabak von der Haut entfernt, wenn sie nicht von selbst abfallen; nachher unterhält man in der Regel die Nachblutung durch feuchte Wärme; doch ist hier Vorsicht geboten, da sie sich oft schwer stillen läßt und bei Kindern tödliche Verblutung vorgekommen ist; man schließt später die kleinen Wunden durch Druck oder Schwamm, Scharpie oder kaltes Wasser, Alaunlösung, Höllenstein etc. Ist ein B. in den Magen geraten, so gibt man Kochsalzlösung und später ein Brechmittel ein; ist er in den Mastdarm geschlüpft, so setzt man ein Klystier von verdünntem Essig. Vgl. Brandt und Ratzeburg, Medizinische Zoologie (Berl. 1829); Moquin-Tandon, Monographie des hirudinées (neue Ausg., [73] Montpellier 1846); Egidy, Die Blutegelzucht (Zittau 1844); Ebrard, Monographie des sangsues (Par. 1857); Rathke, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Hirudineen (Leipz. 1862); Leuckart, Die menschlichen Parasiten, Bd. 1 (2. Aufl., das. 1879 ff.); Stölter, Praktische Resultate der Blutegelzucht (Hildesh. 1860).